Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch für ins Ausland entführte Kinder
Leitsatz (redaktionell)
- Ist ein minderjähriges Kind gegen den Willen des allein sorgeberechtigten Elternteils entführt worden und lebt es seitdem im außereuropäischen Heimatland des anderen Elternteils kann nur dann vom Fortbestehen des bisherigen Wohnsitzes im Inland ausgegangen werden, wenn die äußeren Umständen darauf schließen lassen, das Kind werde in absehbarer Zeit wieder ins Inland zurückkehren.
- Nach Ablauf eines Sechsmonatszeitraums wandelt sich die Prognose eines zunächst nur vorübergehend einzustufenden Auslandsaufenthaltes ohne Hinzutreten besonderer Umstände regelmäßig zu einem dauerhaften Aufenthalt.
- Die in DA-Fam EStG 63.1.1 Abs. 4 enthaltene pauschale Regelung, wonach „vermisste Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres beim Kindergeldbezug zu berücksichtigen sind”, verstößt als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift gegen § 63 Abs. 1 S. 3 EStG und ist für das Gericht nicht bindend.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 1 S. 3; AO § 8; DA-Fam EStG 63.1.1 Abs. 4
Streitjahr(e)
2008
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin für ihre drei ins Ausland entführten Kinder ab Oktober 2008 Kindergeld zusteht. Dem Rechtsstreit liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die Klägerin ist die Mutter der Kinder Z, geb. am ...1992, A, geb. am ...1994 und S, geb. am ...2000. Daneben hat die Klägerin zwei weitere Kinder. Z, A und S lebten in ihrem Haushalt; sie erhielt laufend Kindergeld. Am ...05.2002 entführte der Kindesvater die vorgenannten Kinder ins Ausland, vermutlich nach …N ( = außereuropäisches Ausland ) . Die Klägerin erstattete gegen den Kindesvater Strafanzeige. Er wurde mit (rechtskräftigem) Strafbefehl vom ...03.2003 zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten auf Bewährung verurteilt. Im April 2003 befand sich der Kindesvater für eine geraume Zeit in Deutschland. Die Klägerin traf sich mehrmals mit ihm, um eine Rückführung der Kinder zu erreichen. Nachdem das nicht gelungen war, erstattete die Klägerin nochmals Strafanzeige gegen ihn.
Mit Bescheid vom 22.04.2003 hob die Familienkasse F die Kindergeldfestsetzung betreffend die vorgenannten Kinder mit Wirkung ab Juni 2002 auf und forderte das für die Zeit von Juni bis Dezember 2002 gezahlte Kindergeld zurück. Dagegen legte die Klägerin kein Rechtsmittel ein.
Am 26.10. 2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten (die Familienkasse) erneut die Festsetzung von Kindergeld für Z, A und S. Mit Bescheid vom 26.06.2009 wurde die Kindergeldfestsetzung abgelehnt, es erfolgte aber eine Berücksichtigung der drei Kinder als Zählkinder. Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 16.06.2010 als unbegründet zurück. Mit der am 19.07.2010 eingereichten Klage verfolgt die Klägerin den Kindergeldanspruch vor Gericht weiter.
Die Klägerin ist der Ansicht, der Anspruch ergebe sich bereits aus der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs, wonach Eltern vermisster Kinder (bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) einen Kindergeldanspruch hätten.
Weiter sei zu berücksichtigen, dass die Kinder vor der Entführung ihren festen Wohnsitz im Haushalt der Klägerin gehabt hätten und sie als Hauptbezugsperson für sämtliche Belange der Kinder zuständig gewesen sei. Sie lebe mittlerweile in einem großen Haus in … und halte Zimmer für die Kinder für den Fall ihrer Rückkehr vor.
Schließlich erscheine eine Rückkehr der Kinder nicht als ausgeschlossen. Dafür sprächen das in dieser Sache auf ihre (zweite) Anzeige von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht … eingeleitete Ermittlungsverfahren, das nach wie vor anhängig ist, sowie die Tätigkeit des gleichfalls eingeschalteten Auswärtigen Amtes. Am 21.08.2009 teilte die Klägerin der Staatsanwaltschaft … eine Anschrift in N mit, unter der die Kinder wohnhaft seien. Die Adresse wurde an das Auswärtige Amt zu weiteren Ermittlungen weitergeleitet. Vom Auswärtigen Amt habe sie dann keine Rückmeldung erhalten, wobei sie jedoch mittlerweile längere Wartezeit gewöhnt sei.
Die Klägerin beantragt,
die Familienkasse unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 29.06.2009 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 16.06.2010 zu verpflichten, zu ihren Gunsten für ihre Kinder Z, A und S für die Zeit ab Oktober 2008 Kindergeld in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, der Klägerin stehe für die entführten Kinder kein Kindergeld zu. Nach einem Aufenthalt der Kinder im Ausland von über 8 Jahren sei bei den Kindern, die mittlerweile 18, 15 und 9 Jahre alt sind, davon auszugehen, dass diese ihren Wohnsitz in Deutschland - selbst wenn die Klägerin nach wie vor Zimmer für diese bereit halte - aufgeben hätten.
Dem Gericht hat bei seiner Entscheidung ein Band Kindergeldakten vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
1. Die Familienkasse hat zu Recht entschieden, dass d...