Leitsatz
Die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 S. 4 i.V.m. S. 1 und 3 EStG für eine Abzweigung des Kindergelds an den Sozialleistungsträger sind dem Grund nach auch dann erfüllt, wenn der Kindergeldberechtigte nicht zum Unterhalt seines volljährigen, behinderten Kinds verpflichtet ist, weil es Grundsicherungsleistungen nach §§ 41 ff. SGB XII erhält.
Normenkette
§ 1601, § 1602 BGB, § 76 Abs. 2 Nr. 5 BSHG, § 74 Abs. 1 S. 1, 3 und 4 EStG, § 41 Abs. 1 Nr. 2, § 42 S. 1 Nr. 2, § 43 Abs. 2 S. 1, § 94 Abs. 1 S. 3 SGB XII
Sachverhalt
Die Eltern bezogen ALG II, die in ihrem Haushalt lebenden volljährigen, behinderten Kinder erhielten vom Sozialamt Leistungen der Grundsicherung.
Die Familienkasse lehnte eine Abzweigung des Kindergelds an das Sozialamt ab, das FG verpflichtete die Familienkasse, den Antrag neu zu bescheiden (FG Münster, Urteil vom 10.08.2006, 14 K 4461/05 Kg, Haufe-Index 1604044, EFG 2006, 1684).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück. Materiell hätte zugunsten des Sozialamts durcherkannt werden können, dem das Kindergeld zusteht. Daran war der Senat aber verfahrensrechtlich gehindert, weil nur die Familienkasse Revision eingelegt hatte.
Hinweis
1. Wie im vorstehenden Fall geht es um die Abzweigung von Kindergeld an den Sozialhilfeträger, die möglich ist, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt oder mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist (§ 74 Abs. 1 S. 3 EStG, vgl. BFH, Urteil vom 09.02.2009, III R 37/07, BFH/NV 2009, 1015, BFH/PR 2009, 298 in diesem Heft).
2. Die Eltern sind ihren behinderten volljährigen Kindern gegenüber nach den §§ 1601 ff. BGB zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, wenn diese sich nicht selbst unterhalten können. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Während die sozialrechtliche Eingliederungshilfe die Bedürftigkeit nicht mindert, sind Grundsicherungsleistungen bei Erwerbsminderung (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII) nicht subsidiär, sofern das Gesamteinkommen der Eltern unter 100 000 EUR liegt (§ 43 Abs. 2 SGB XII). Die Grundsicherungsleistungen für die Kinder lassen daher die Unterhaltspflicht der Eltern erlöschen. Dem Grund nach bleibt aber die Unterhaltspflicht bestehen und etwaige Unterhaltsleistungen der Eltern wären auf die Grundsicherung anzurechnen, sodass deren Unterhaltspflicht nur mangels Leistungsfähigkeit entfällt (§ 72 Abs. 1 S. 3 EStG).
3. Bei der Ermessensentscheidung über die Abzweigung sind Unterhaltsleistungen der Eltern an die Kinder zu berücksichtigen. Die Haushaltsaufnahme und Betreuungsleistungen gehören aber nicht dazu.
4. Unterhaltsleistungen können den Eltern nicht entstehen, wenn sie selbst ALG II ohne Kinderzuschlag erhalten und der Unterhalt der Kinder durch die Grundsicherung erbracht wird, welche Unterkunft und Verpflegung umfasst. Eine Auszahlung des Kindergelds an die Eltern würde diesen auch nicht zugutekommen, sondern – wegen der Anrechnung auf das ALG II – der dieses auszahlenden ARGE.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 17.12.2008, III R 6/07