Leitsatz
1. Ist ein teilstationär in einer Behindertenwerkstatt untergebrachtes behindertes Kind in den Haushalt des Kindergeldberechtigten aufgenommen, scheidet eine im Rahmen der Entscheidung über die Abzweigung (§ 74 Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 EStG) angestellte tatsächliche Vermutung, wonach die Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten den in § 66 Abs. 1 EStG vorgesehenen Kindergeldsatz bereits dann erreichen bzw. überschreiten, wenn der Kindergeldberechtigte selbst nicht von Sozialleistungen lebt, aus.
2. Im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Abzweigung sind die von dem Kindergeldberechtigten tatsächlich erbrachten Unterhaltsaufwendungen (z.B. Gewährung einer Unterkunft, Kosten für die behinderungsbedingte Begleitung) zu berücksichtigen.
3. Enthält ein Bescheid über die Ablehnung einer Abzweigung keine Bestimmung über das Ende seines Regelungszeitraums, dann trifft er nur eine Regelung bis zur Bekanntgabe der letzten Verwaltungsentscheidung, d.h. bis zur Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides oder einer nachfolgenden Einspruchsentscheidung, wenn in dieser über die Abzweigung sachlich entschieden wurde.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 EStG, § 40 Abs. 2 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter einer 1977 geborenen Tochter, die schwerbehindert ist (GdB 100, Merkzeichen "B", "G" und "H"), im Haushalt ihrer Eltern lebt, tagsüber eine Behindertenwerkstatt besucht und vom Beigeladenen und Revisionskläger monatliche Grundsicherungsleistungen i.H.v. 71,29 EUR erhält. Die von der Tochter bezogene Erwerbsminderungsrente wird voll, ihr Einkommen aus der Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt unter Berücksichtigung von Abzugsbeträgen auf den vom Grundsicherungsträger ermittelten Bedarf angerechnet.
Im März 2010 beantragte der Beigeladene, das gegenüber der Klägerin festgesetzte Kindergeld an ihn abzuzweigen. Die Familienkasse stellte daraufhin die Auszahlung des Kindergeldes an die Klägerin ein. Nachdem sie von der Klägerin erbrachte monatliche Unterhaltsaufwendungen i.H.v. 125,07 EUR ermittelt hatte, zweigte sie zunächst 130,22 EUR (= 184 EUR ./. 125,07 EUR + 71,29 EUR) an den Beigeladenen ab und reduzierte den Abzweigungsbetrag mit Einspruchsentscheidung vom 27.10.2011 auf den Betrag der Grundsicherungsleistungen (71,29 EUR). Das Thüringer FG hob den Abzweigungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf (Urteil vom 19.3.2013, 1 K 1013/11, Haufe-Index 6460231).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des Sozialleistungsträgers als unbegründet zurück, weil die Klägerin Unterhaltsaufwendungen in Höhe des monatlichen Kindergeldbetrages getragen hatte. Diese ermittelte der BFH anhand der tatsächlichen Feststellungen des FG; dessen Vermutungsregel über die Höhe des Unterhalts er allerdings zugleich verwarf.
Hinweis
1. Bei der Ermessensentscheidung über eine Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialleistungsträger, der dem Kind Unterhalt gewährt, sind auch geringe Unterhaltsleistungen der Eltern zu berücksichtigen, die ihnen für Betreuung und Umgang mit dem Kind tatsächlich entstanden sind und glaubhaft gemacht wurden. Fiktive Kosten (z.B. "Arbeitslohn für Betreuung") scheiden aus. Sind die Leistungen der Eltern mindestens so hoch wie das Kindergeld, ist eine Abzweigung nicht ermessensgerecht. Dies gilt sogar dann, wenn die Aufwendungen des Sozialleistungsträgers die der Eltern um ein Vielfaches übersteigen.
2. Die Feststellung der Höhe der elterlichen Aufwendungen bereitet Mühe. Das FG hat zur Vermeidung des Ermittlungsaufwands eine tatsächliche Vermutung aufgestellt, wonach die Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten den in § 66 Abs. 1 EStG vorgesehenen Kindergeldsatz bereits dann erreichen, wenn er das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat und selbst nicht von Sozialleistungen lebt. Dem ist der BFH – jedenfalls für behinderte Kinder – entgegengetreten, weil die Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten gegenüber seinem behinderten Kind von zahlreichen Faktoren abhängen (z.B. Höhe der dem Kind gewährten Grundsicherungs- und Rentenleistungen; eigene Einkünfte und eigenes bedarfsdeckendes Vermögen des Kindes, wie Wohnung oder Pkw), die sich einer Verallgemeinerung durch die Vermutung eines bestimmten Geschehensablaufs entziehen.
3. Ist ein behindertes Kind nicht vollstationär untergebracht, sondern nur tagsüber in einer Behindertenwerkstatt, so sind die Kosten der Unterkunft anzusetzen, und zwar nicht nur – wie hier geschehen – mit einer sog. "Hauslast" i.H.v. 53,51 EUR, sondern mit der anteiligen Miete oder dem Wert der Wohnung nach der Sozialversicherungsentgeltverordnung, woraus sich ein Sachbezug von monatlich 204 EUR (2010) bzw. 206 EUR (2011) ergibt. Abzuziehen sind die dem Kind über die Grundsicherung gewährten Leistungen für Unterkunft. Außerdem sind etwaige Kosten für die Deckung des durch die Grundsicherungsleistungen nicht erfassten behinderungsbedingten Mehrbedarfs mit dem Behindertenpauschbetrag anzusetzen (§ 33b Abs. 3 EStG), im vorliegenden Falle wegen ...