§ 174 Abs. 1 AO: Nach § 174 Abs. 1 AO kann ein Steuerbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen bei Mehrfachberücksichtigung eines Sachverhalts zu seinen Ungunsten geändert werden. Ein Widerstreit zwischen einem inländischen und einem ausländischen Steuerbescheid liegt nicht vor, wenn derselbe Sachverhalt im Ausland bei der Bemessungsgrundlage für die Steuer und im Inland im Rahmen des Progressionsvorbehalts hätte berücksichtigt werden können. Denn für den Ausschluss der Änderung nach § 174 Abs. 1 AO ist es unerheblich, dass sich im Streitfall auch bei Berücksichtigung der in der Schweiz gelegenen Grundstücke im Rahmen der Progression kein höherer Steuersatz ergeben hätte. Dabei ließ der BFH offen, ob "Steuerbescheid" i.S.d. § 174 Abs. 1 AO auch eine Maßnahme einer Steuerbehörde eines Drittstaates sein kann (BFH v. 20.3.2019 – II R 61/15, BStBl. II 2020, 463 = AO-StB 2019, 172; v. 20.3.2019 – II R 62/15, BFH/NV 2019, 674).

§ 174 Abs. 1 AO erfasst nicht die Doppelberücksichtigung eines Sachverhalts in ein und demselben Steuerbescheid. Ein Widerstreit i.S.d. § 174 Abs. 1 AO liegt nicht vor, wenn die LSt- und die ESt-Festsetzungen hinsichtlich der Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit nicht voneinander abweichen (FG Münster v. 15.2.2019 – 14 K 2122/16 E, EFG 2020, 629, Rev. eingelegt, Az. des BFH: VIII R 9/20).

§ 174 Abs. 3 AO: Nach § 174 Abs. 3 AO kann eine Steuerfestsetzung geändert werden, wenn ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen ist und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. § 174 Abs. 3 AO findet dann keine Anwendung, wenn die FinVerw. ihre ursprüngliche Rechtsauffassung durch Veröffentlichung eines BFH-Urteils im BStBl. II geändert hat und der Steuerpflichtige die Möglichkeit, einen noch offenen Rechtsbehelf hieraufhin zu erweitern, nicht wahrgenommen hat. Denn § 174 Abs. 3 AO verlangt u.a., dass der Steuerpflichtige, der eine Änderung nach dieser Norm begehrt, Vertrauensschutz genießt. In den Fällen des § 174 Abs. 3 AO muss dem Betroffenen daher nur dann eine Änderungsmöglichkeit eingeräumt werden, wenn er auf eine irrige Rechtsansicht vertraut hat und ohne Änderungsmöglichkeit seine Rechte nicht weiterverfolgen könnte (FG Hamburg v. 2.12.2021 – 6 K 48/20, EFG 2022, 812).

Voraussetzung für die Anwendung des § 174 Abs. 3 AO ist die subjektive Annahme der FinBeh., dass ein bestimmter Sachverhalt statt in dem einen in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen ist. Objektiv muss ein Alternativverhältnis zwischen den beiden Steuerbescheiden dagegen nicht vorliegen (FG BW v. 15.6.2021 – 8 K 1764/18, EFG 2021, 1782, Rev. eingelegt, Az. des BFH: IV R 19/21).

§ 174 Abs. 4 AO: Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Ändert das FA seine Rechtsauffassung zu einem Dauersachverhalt (im Streitfall: Überlassung eines Wirtschaftsguts ohne angemessenes Nutzungsentgelt an den Gesellschafter-Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft), und hat dies in einzelnen Streitjahren einkommensmindernde Auswirkungen, kann nicht auf dieser Grundlage und unter Hinweis auf § 174 Abs. 4 AO eine einkommenserhöhende Wirkung in anderen Streitjahren durch Änderung von Bescheiden umgesetzt werden. Denn § 174 Abs. 4 AO hat nicht zum Gegenstand, eine Folgerichtigkeit der Rechtsanwendung in allen Streitjahren herzustellen (BFH v. 20.11.2019 – XI R 49/17, BFH/NV 2020, 497).

Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" i.S.d. § 174 Abs. 4 S. 1 AO erfasst nicht nur eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes steuerrechtlich bedeutsames Merkmal, sondern den einheitlichen, für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex, der durch die der rechtlichen Beurteilung zugrunde liegenden Lebensvorgänge gebildet wird.

Unterschiedliche Regelungsgegenstände der Bescheide stehen der Folgeänderung nicht entgegen. Maßgeblich ist allein, ob bezogen auf den zu beurteilenden Sachverhalt eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht. Unerheblich ist, dass die Folgeänderung nicht auf die gleiche Rechtsfolge gerichtet ist, bzw. dass unterschiedliche Steuerarten betroffen sind (z.B. Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer, FG Köln v. 21.2.2019 – 10 K 1074/17, EFG 2019, 1428, bestätigt durch BFH v. 17.3.2022 – XI R 5/19, AO-StB 2022, 272 [Reddig]). Der bestimmte Sachverhalt i.S.d. Abs. 1 bis 4 des § 174 AO kann auch rechtliche Elemente und Schlussfolgerungen enthalten (FG BW v. 15.6.2021 – 8 K 1764/18, EFG 2021, 1782, Rev. eingelegt, Az. des BFH: IV R 19/21).

§ 174 Abs. 5 AO: Nach § 174 Abs. 5 AO ist eine Beiladung zulässig, wenn ein...

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