Ein aktuelles Rechtsprechungs-Update
[Ohne Titel]
StB Dipl.-Fw. Karl-Heinz Günther
Steuer- und Feststellungsbescheide können, sofern der Steuer- oder Feststellungsbescheid nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) oder vorläufig (§ 165 AO) ergangen ist, nur berichtigt oder geändert bzw. aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung einer Berichtigungs- oder Änderungsnorm (§§ 129, 172 ff. AO) erfüllt sind. Dies gilt auch bei der Ausübung zeitlich nicht gebundener Wahl- oder Antragsrechte, die nur dann noch ausgeübt werden können, solange der entsprechende Steuerbescheid nicht formell und materiell bestandskräftig geworden ist.
Der Frage, ob ein endgültig ergangener Steuer- oder Feststellungsbescheid noch berichtigt oder geändert werden kann, kommt nach wie vor eine große und dabei in erhöhtem Maße streitanfällige Bedeutung zu, s. bereits den Überblick über die seinerzeit aktuelle Rechtsprechung im AO-StB 2019, 179. Der nachfolgende Beitrag informiert über die zwischenzeitlich ergangene aktuelle Rechtsprechung, unter welchen Voraussetzungen auch bei Vorliegen eines endgültigen Steuer- oder Feststellungsbescheides noch eine nachträgliche Bescheidänderung – zu Lasten wie zugunsten des Steuerpflichtigen – möglich ist.
1. Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten (§ 129 AO)
a) Allgemeine Rechtsprechungsgrundsätze
Offenbare Unrichtigkeiten: Steuer- und Feststellungsbescheide können nach § 129 AO berichtigt werden, sofern ein Schreibfehler, Rechenfehler oder eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit vorliegt. Offenbare Unrichtigkeiten i.S.v. § 129 AO sind mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler. Dagegen schließen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts eine offenbare Unrichtigkeit aus.
§ 129 AO ist ferner nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht. Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls und dabei insb. nach der Aktenlage beurteilt werden (BFH v. 10.12.2019 – IX R 23/18, BStBl. II 2020, 371 = AO-StB 2020, 70 [Kühnen] sowie v. 23.7.2020 – V R 37/18, BStBl. II 2021, 50 = AO-StB 2020, 377 [Günther]). Auf die Erkennbarkeit für den zuständigen Bearbeiter des FA kommt es demgegenüber nicht an (FG Münster v. 5.12.2019 – 13 K 2338/17 E, EFG 2020, 332, NZB durch BFH v. 3.2.2021 – VIII B 26/20 n.v. zurückgewiesen).
Lässt sich nicht abschließend klären, wie es zu der Unrichtigkeit im Bescheid gekommen ist und stehen sich zwei nicht nur theoretisch denkbare hypothetische Geschehensabläufe gegenüber, von denen einer eine Berichtigung ausschließt, darf nicht berichtigt werden. Die objektive Feststellungslast trifft das FA, wenn es sich auf die Berichtigungsvorschrift beruft (BFH v. 10.3.2020 – IX R 29/18, BStBl. II 2020, 698 = AO-StB 2020, 311 [Marfels]).
Deuten die Gesamtumstände des Falles auf ein mechanisches Versehen hin und liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Fehler auf rechtliche oder tatsächliche Erwägungen zurückzuführen ist, so kann berichtigt werden.
Beraterhinweis Liegt eine offenbare Unrichtigkeit vor, ist die Berichtigungsmöglichkeit nach § 129 S. 1 und 2 AO nicht von Verschuldensfragen abhängig. Die in der BFH-Rspr. zu § 129 AO entwickelten Grundsätze gelten auch bei der Einreichung elektronischer Steuererklärungen (BFH v. 22.5.2019 – XI R 9/18, BStBl. II 2020, 37 = AO-StB 2019, 274).
Risikomanagementsysteme: § 129 AO ist auch bei Einsatz eines Risikomanagements anwendbar. Sind vom Steuerpflichtigen in seiner Steuererklärung angegebene Einkünfte im Einkommensteuerbescheid nicht berücksichtigt worden, weil die Anlage S zur Einkommensteuererklärung versehentlich nicht eingescannt und die angegebenen Einkünfte somit nicht in das elektronische System übernommen wurden, liegt ein mechanisches Versehen und somit grundsätzlich eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 129 S. 1 AO vor. Ein mechanisches Versehen ist jedoch nicht mehr gegeben, sondern es liegt ein Fehler im Bereich der Sachverhaltsermittlung nach § 88 AO vor, wenn der Sachbearbeiter eine weitere Sachverhaltsermittlung unterlässt, obwohl sich ihm aufgrund der im Rahmen des Risikomanagementsystems ergangenen Prüf- und Risikohinweise eine weitere Prüfung des Falles hätte aufdrängen müssen (BFH v. 14.1.2020 – VIII R 4/17, BStBl. II 2020, 433 = AO-StB 2020, 212 [Lemaire]).
b) Einzelfälle der Rechtsprechung
Ein Körperschaftsteuerbescheid ist offenbar unrichtig, wenn die Steuerpflichtige die Zeile 44a der Körperschaftsteuererklärung nicht ausgefüllt hat, obwohl sich aus den dem FA vorliegenden Ste...