FinMin Nordrhein-Westfalen, Erlaß v. 11.8.2016, S 0351

 

I. Grundsatz

Für die Frage, ob eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten oder nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten des Steuerpflichtigen in Betracht kommt, ist auf die steuerliche Auswirkung abzustellen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift („höhere Steuer” bzw. „niedrigere Steuer”) ist hierfür allein auf das Ergebnis der Steuerfestsetzung – ohne Berücksichtigung von Steuerabzugsbeträgen wie z.B. Lohnsteuerabzugsbeträgen – abzustellen. Dies entspricht der Gesetzessystematik. Geändert wird nach § 173 AO die festgesetzte Steuer, nicht aber die Abrechnung bzw. Anrechnungsverfügung. Die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO sind nur im Steuerfestsetzungsbereich anwendbar; für den Erhebungsbereich sind die §§ 130, 131 AO einschlägig.

Dem steht auch das BFH-Urteil vom 16.3.1990, VI R 90/86 (BStBl 1990 II S. 610) nicht entgegen. Sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen ist erkennbar, dass die „mit einer Nettolohnvereinbarung zusammenhängenden Besonderheiten [es] … geboten erscheinen [lassen], bei dem für die §§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AO und 173 Abs. 1 AO erforderlichen Vergleich auch die anrechenbaren Abzugssteuern zu berücksichtigen”. In dem Urteilsfall war der Betrag, um den die Einkünfte zu erhöhen waren, gleichzeitig der Betrag, der auf die festgesetzte Steuer anzurechnen war. Dies bedeutet, dass mit der Entscheidung im Festsetzungsbereich auch unmittelbar über die Anrechnung dem Grunde und der Höhe nach entschieden worden wäre. (Hinweis auf AEAO zu § 173, Tz. 1.4)

 

II. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung bei Steuererstattungsanspruch

Werden dem Finanzamt nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragsteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, die zu einer höheren Steuer führen, ist die Steuerfestsetzung auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist – zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt.

 

III. Anrechnung von Kapitalertragsteuer

Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugbeträge stellt einen selbständigen Verwaltungsakt „Anrechnungsverfügung” im Erhebungsbereich dar, der zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen nur unter den Voraussetzungen der §§ 129131 AO korrigiert werden kann (vgl. AEAO zu § 218, Nr. 3; H 36 – Anrechnung – EStH 2014). Hinweis: → AO-Kartei NW § 130 Karte 801

 

IV. nachträgliche Anrechnung von Kapitalertragssteuer bei Unterbleiben der Änderung nach § 173 Abs. 1 AO

Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht das Korrespondenzprinzip des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen – trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte – unverändert bleibt.

Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen. Bei Vorlage der entsprechenden Steuerbescheinigung innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist kann die Anrechnung der Kapitalertragsteuer vorgenommen werden.

 

V. Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)

Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt voraus, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) objektiv und subjektiv erfüllt ist. In objektiver Hinsicht ist er stets dann erfüllt, wenn die Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge zu einer höheren Einkommensteuerschuld führt.

Ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung in subjektiver Hinsicht – aufgrund vorsätzlichen Handelns des Steuerpflichtigen – erfüllt ist, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalles entschieden werden.

Steuerhinterziehung oder auch nur leichtfertige Steuerverkürzung liegen nicht vor, wenn die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende anrechnungsfähige Kapitalertragsteuer den Einkommensteuer-Mehrbetrag, der sich bei Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer Einkommensteuerschuld), übersteigt, wenn die Anrechnung der Kapitalertragssteuer also zu einer Steuererstattung führt. In diesen Fällen liegt keine vollendete Steuerhinterziehung vor, da der für die Erfüllung des objektiven Tatbestands in § 370 AO voraus gesetzte Taterfolg der Steuerverkürzung durch die fehlende Angabe der Kapitalerträge nicht eingetreten ist. In solchen Fällen ist die 10-jährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht anwendbar (vgl. BFH-Urteil vom 26...

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