Leitsatz
1. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gewährt dem Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Bestandskraft von Steuerbescheiden grundsätzlich keinen Schutz. Die Änderung eines Steuerbescheids wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen ist jedoch gemäß dem Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn die Finanzbehörde bei Erlass des ursprünglichen Bescheids Ermittlungsmöglichkeiten nicht genutzt hat, die sich ihr hätten aufdrängen müssen.
2. Ob es geboten ist, zusätzlich zu der verkehrsbehördlichen Anmeldung eines Kfzs eine besondere Steuererklärung zu verlangen, um von vornherein die richtige Besteuerung von der Verkehrsbehörde steuerrechtlich zu Unrecht als Kleinlaster eingestufter Fahrzeuge sicherzustellen, hängt davon ab, ob ein solches Verlangen unter Abwägung aller von einer solchen Maßnahme betroffenen öffentlichen und privaten Belange, insbesondere auch des Verwaltungsaufwands, angemessen ist.
Normenkette
§ 88 AO , § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO , § 3 Abs. 1 KraftStDV , § 5 Abs. 3 KraftStDV
Sachverhalt
Ein Fahrzeug mit Kabine für vier Personen und kleiner offener Ladefläche (sog. Pick-up) wurde 1997 bei der Verkehrsbehörde angemeldet und von dieser als Lkw eingestuft. Dementsprechend wurde dem FA per EDV übermittelt, es sei ein Lkw zugelassen worden. Der Steuerbescheid von 1997 wurde entsprechend automatisch erstellt (Gewichtsbesteuerung). Später – 1999 – überprüfte das FA den Bescheid und kam zu dem Ergebnis, das Fahrzeug sei ein Pkw. Es erhob daher Kraftfahrzeugsteuer ab dem Tag der Zulassung nach.
Der Fahrzeughalter/Steuerpflichtige wandte dagegen ein, die FÄ wüssten seit Anfang 1994, dass sie sich bei Klein-Lkws auf die verkehrsbehördliche Einstufung nicht ohne weiteres verlassen könnten. Das FA habe deshalb deren Daten nicht blindlings übernehmen dürfen, sondern bis 1997 die Gewähr für eine zutreffende Besteuerung solcher Fahrzeuge schaffen müssen. Da es das versäumt habe, dürfe es den unrichtig ergangenen Bescheid nicht nachträglich ändern.
Entscheidung
Der BFH hat das Urteil des FG aufgehoben, welches der Argumentation des Steuerpflichtigen gefolgt war. Er hat die Sache an das FG zurückverwiesen. Es müsse insbesondere aufgeklärt werden, auf welche Weise die Finanzverwaltung unter Beibehaltung des EDV-Datenaustauschs mit den Verkehrsbehörden die richtige Besteuerung in solchen Fällen hätte sicherstellen können, ob die dafür notwendigen Vorkehrungen bis 1997 hätten getroffen werden können und ob der dafür unter Umständen notwendige Verwaltungsaufwand in einem angemessenen Verhältnis zu der Zahl der Fälle gestanden hätte, in denen dadurch eine unrichtige Besteuerung (und folglich die Notwendigkeit einer späteren Bescheidänderung) hätte vermieden werden können.
Beachten Sie, dass das Urteil des BFH lediglich ein differenziertes Prüfprogramm für die FG aufgestellt hat, nach dem geklärt werden muss, ob bei unrichtiger Besteuerung als Lkw einer Bescheidänderung nach § 173 Abs. 1 AO der Einwand der Treuwidrigkeit (Verletzung der Ermittlungspflicht durch blinde Übernahme der verkehrsbehördlichen Daten) entgegensteht. Die Sache ist also nicht zu Ende!
Hinweis
1. Steuerbescheide müssen geändert werden, wenn sie auf falschen Tatsachen beruhen und die richtigen Tatsachen dem FA nachträglich bekannt werden. Das ist der vom Gesetz – im Interesse der gleichmäßigen Besteuerung der Bürger – aufgestellte unerbittliche Grundsatz. Vertrauen des Bürgers in die Richtigkeit der Besteuerung bzw. (genauer gesagt) die Richtigkeit der tatsächlichen Grundlagen der Besteuerung wird von der AO grundsätzlich nicht geschützt. Darin unterscheidet sich die AO für den Steuerbürger höchst nachteilig vom allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht, das solches Vertrauen grundsätzlich schützt (vgl. § 48 Abs. 2 VwVfG)!
Da die AO das Vertrauen in die Richtigkeit der tatsächlichen Grundlagen der Besteuerung grundsätzlich nicht schützt, kommt es für die nachteilige Änderbarkeit eines unrichtigen Steuerbescheids nicht darauf an, ob der Steuerpflichtige Schuld daran hat, dass das FA unrichtige Tatsachen zugrunde gelegt hat. Das ist nur dann bedeutsam, wenn der Steuerpflichtige eine Änderung des Steuerbescheids zu seinen Gunsten verlangt. Die AO misst insofern also – wieder einmal – mit zweierlei Maß.
Beachten Sie aber den Verdienst der Rechtsprechung, welche die bedenkliche Schieflage, die § 173 AO mit sich bringt, durch Aktivierung des Grundsatzes von Treu und Gauben ein Stück weit korrigiert hat.
Hat das FA durch Verletzung seiner Amtsermittlungspflicht verursacht, dass die tatsächlichen Grundlagen des Steuerbescheids unrichtig sind, darf es diesen nicht ändern. Denn es wäre treuwidrig, seinen Pflichten nicht nachzukommen und gleichwohl die Folgen der Pflichtverletzung (nämlich den durch Unrichtigkeit des Steuerbescheids verursachten Steuerausfall) nicht tragen zu wollen.
Treuwidrigkeit setzt allerdings einen schweren Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht voraus. Einfache Nachlässigkeit dürfte nicht genügen. Jedenfalls führt es nicht zum Vorwurf der Treu...