1. Ehegattenverantwortlichkeit bei Zusammenveranlagung
Zusammenveranlagte Eheleute müssen nach § 25 Abs. 3 S. 2 EStG eine gemeinsame ESt-Erklärung abgeben. Beide haben den Vordruck eigenhändig zu unterschreiben und versichern damit, die Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht zu haben. Daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass alle Angaben von beiden Ehegatten mitgetragen werden. Der Erklärungsgehalt der Unterschrift beschränkt sich nämlich auf die Tatsachen, die den jeweiligen Ehegatten betreffen. Soweit in der Steuererklärung Einkünfte aufgeführt sind, die nur von einem Ehegatten erzielt werden, macht lediglich derjenige Ehegatte Angaben i.S.v. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, der den Tatbestand dieser Einkunftsart verwirklicht (vgl. BFH v. 16.4.2002 – IX R 40/00, BStBl. II 2002, 501 = wistra 2002, 353 = DStR 2002, 1176; BGH v. 17.4.2008 – 5 StR 547/07, wistra 2008, 310 = HFR 2008, 1075; OLG Karlsruhe v. 16.10.2007 – 3 Ws 308/07, StV 2008, 255; = PStR 2008, 7 = wistra 2008, 35; Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 370 AO Rz. 522; Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 689 f. [Juli 2019]; Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 115.2 [Mai 2022]; Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 370 AO Rz. 35 [Mai 2022]; Hoyer in Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 189 [Februar 2022]; Tormöhlen, wistra 2000, 470; Tormöhlen in Papperitz/Keller, ABC Betriebsprüfung, Fach 5 Stichwort "Ehegattenverantwortlichkeit" Rz. 5.1 ff. [Januar 2021]; Seiler in Kirchhof/Seer, EStG, 21. Aufl. 2022, § 26b Rz. 14; Tormöhlen in Korn, EStG, § 26b Rz. 17 [Mai 2020]); h.M.; a.A. Rolletschke in Rolletschke/Kemper/Roth, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 133 [Februar 2019]; Rolletschke, DStZ 1999, 216; Reichle, wistra 1998, 91).
BGH v. 3.5.2022 – 1 StR 10/22
2. Schätzung von Besteuerungsgrundlagen
Im Steuerstrafverfahren ist eine Schätzung zulässig, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist (st. Rspr.; vgl. hierzu BGH v. 28.10.2020 – 1 StR 158/20, AO-StB 2021, 293; v. 16.9.2020 – 1 StR 140/20, wistra 2021, 278 = NStZ-RR 2021, 15; Rolletschke in Rolletschke/Kemper/Roth, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 237 [Oktober 2021; Tormöhlen, AO-StB 2013, 256; ausf. Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 333 ff. [Juli 2019]). Bei der Wahl der Schätzungsmethode hat das Tatgericht einen Beurteilungsspielraum. Es bedarf jedoch nachvollziehbarer Ausführungen im Urteil dazu, warum es sich der gewählten Schätzungsmethode bedient hat und weshalb diese im konkreten Fall für die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen geeignet ist. Bei seiner Überzeugungsbildung hat das Tatgericht die vom Besteuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) zu berücksichtigen (vgl. hierzu Schott in Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2020, § 370 AO Rz. 201 ff.; Heuel in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1211 ff. [Oktober 2019]; Tormöhlen in Papperitz/Keller, ABC Betriebsprüfung, Fach 5 Stichwort "Schätzung" Rz. 17 ff. [September 2018]).
BGH v. 10.2.2022 – 1 StR 484/21
3. Steuerhinterziehung durch Unterlassen
a) Taterfolg bei Nichtabgabe der Steuererklärung
Bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen tritt, wenn nicht zuvor ein Schätzungsbescheid ergangen ist, die Tatvollendung zu dem Zeitpunkt ein, zu welchem die Veranlagung stattgefunden hätte, wenn die Steuererklärung pflichtgemäß eingereicht worden wäre. Dies ist spätestens dann der Fall, wenn das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten für die betreffende Steuerart und den betreffenden VZ im Wesentlichen abgeschlossen hat (vgl. hierzu bereits BGH v. 20.5.1981 – 2 StR 666/80, BGHSt 30, 122 = NJW 1981, 1970; h.M.; statt vieler Rolletschke in Rolletschke/Kemper/Roth, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 412 ff. [Mai 2015]; Schott in Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2020, § 370 AO Rz. 192).
Wenn allerdings der Steuerpflichtige vor diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Einleitung des Steuerstrafverfahrens hatte, ist die Pflicht zur Erklärungsabgabe im Hinblick auf den Grundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare" entfallen und der Täter kann nur wegen Versuchs nach § 370 Abs. 2 AO bestraft werden (vgl. grundlegend BGH v. 23.1.2002 – 5 StR 540/01, wistra 2002, 150; ferner Tormöhlen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 393 AO Rz. 38 ff. [Februar 2020]).
BGH v. 3.11.2021 – 1 StR 215/21 BGH v. 4.11.2021 – 1 StR 236/21
b) Kenntnis der Finanzbehörde von steuerlich erheblichen Tatsachen
Eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen scheidet aus, wenn die FinBeh. bei Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis hat. Denn ein Steuerpflichtiger kann das FA nicht i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in Unkenntnis lassen, wenn dieses tatsächlich über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist (vgl. hierzu OLG Köln v. 31.1.2017 – 1 RVs 253/16, wistra 2017, 363 = NZWiSt 2017, 317; OLG Oldenburg v. 10.7.2018 – 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79 = NZWiSt 2019, 145; str.; Schott in Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2020, § 370 AO Rz. 148; a.A. BFH v....