1. Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO i.V.m. § 385 Abs. 1 AO)
Ob der Richtervorbehalt bei der Überwachung einer Telekommunikation nach §§ 100a, 100e Abs. 1 StPO durch die Ermittlungsbehörden umgangen wird oder der Ermittlungsrichter seiner Funktion als Kontrollorgan der Strafverfolgungsorgane nicht ordnungsgemäß nachkommt, sondern ohne objektiv hinreichende richterliche Prüfung eine solche Maßnahme anordnet, kann wertmäßig nicht unterschiedlich behandelt werden (zu sog. "Copy-Paste-Anträgen" vgl. Peters, AO-StB 2021, 372; ferner zu rechtswidriger Bezugnahme auf polizeiliche Zuschriften LG Kiel v. 20.3.2009 – 46 Qs 17/09, StV 2010, 354; zu formularmäßiger Übernahme eines staatsanwaltschaftlichen Antrags vgl. LG Siegen v. 25.10.2010, 10 Qs 104/09, NStZ-RR 2011, 316). Denn der Richtervorbehalt (vgl. auch Art. 13 Abs. 2 GG) ist keine bloße Formsache. Durch ihn soll gewährleistet werden, dass eine unabhängige und neutrale Instanz durch eine vorbeugende Kontrolle der beantragten Maßnahme dafür Sorge trägt, dass die Interessen der Beteiligten gebührend Berücksichtigung finden (vgl. BVerfG v. 20.4.2004 – 2 BVR 2043/03, 2 BvR 2104/03, PStR 2004, 176 = wistra 2005, 21 = HFR 2005, 1249; v. 20.2.2001 – 2 BvR 1444/00, juris).
Wenn es für die Frage der Verwertbarkeit eines Beweismittels keinen Unterschied machen würde, ob der die Maßnahme anordnende Richter die Eingriffsvoraussetzungen vor Unterzeichnung eines Beschlusses mit einiger Sorgfalt geprüft hat oder nicht, würde das Prinzip des Richtervorhalts ad absurdum geführt. Dann ist aber auch belanglos, ob ein Ermittlungsrichter, der sich ordnungsgemäß mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der beantragten Maßnahme auseinandergesetzt hätte, diese angeordnet hätte. Auf einen möglichen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlauf kommt es nicht an.
LG Paderborn v. 12.7.2021 – 02 KLs 6 Js 44/19 – 3/19
2. Durchsuchung (§ 102 StPO i.V.m. § 385 Abs. 1 AO)
An eine Durchsuchung, die ausschließlich der Feststellung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten im Rahmen der Festsetzung der Tagessatzhöhe (§ 40 Abs. 2 S. 1 StGB) dient, sind angesichts des damit verbundenen Grundrechtseingriffs besonders strenge Anforderungen zu stellen, da das Gesetz in § 40 Abs. 3 StGB ausdrücklich die Möglichkeit einer Schätzung der Einkünfte des Täters vorsieht (vgl. aber BVerfG v. 16.8.1994 – 2 BvR 983, 1258/94, NJW 1995, 385). Eine solche Durchsuchung ist allenfalls dann denkbar, wenn anhand der zur Verfügung stehenden Beweismittel eine Schätzung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten nicht möglich ist, was nur in eng begrenzten Ausnahmefällen der Fall sein dürfte.
Allerdings sind nahe liegende andere Aufklärungsansätze hinsichtlich der Erwerbstätigkeit des Angeklagten, etwa eine behördliche Auskunft der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht oder der Deutschen Rentenversicherung oder die zeugenschaftliche Vernehmung der Lebensgefährtin des Angeklagten zu dessen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen möglich. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an eine Schätzung nicht überspannt werden dürfen und als Schätzgrundlage z.B. auf die sich aus den allgemein zugänglichen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes sowie der Statistischen Landesämter ergebenden Durchschnittseinkommen von Arbeitnehmern zurückgegriffen werden kann, sofern eine Erwerbstätigkeit des Angeklagten feststeht. Vor zu hohen Schätzungen kann der Angeklagte sich durch eine Offenlegung seiner Verhältnisse schützen.
LG Bonn v. 28.10.2020 – 50 Qs 857 Js 721/20 – 36/20
3. Pflichtverteidigerbestellung (§ 141 StPO i.V.m. § 385 Abs. 1 AO)
Es kann offenbleiben, ob eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers rechtlich möglich ist. Jedenfalls ist der Beschuldigte nicht mehr beschwert und eine entsprechende Beschwerde deshalb unzulässig, wenn zwar zunächst wegen des Verdachts eines Verbrechens ermittelt worden war, aber nunmehr nur noch der Tatverdacht eines Vergehens im Raum steht und die Staatsanwaltschaft die Weiterleitung eines Beiordnungsantrags mehrere Monate verzögert hat (zur str. Frage der nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Antragsbearbeitung verzögert worden ist, vgl. OLG Nürnberg v. 6.11.2020 – Ws 962-963/20, StV 2021, 153 = StraFo 2021, 71; Willnow in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 141 Rz. 4).
LG Bad Kreuznach v. 12.8.2020 – 2 Qs 93/20
4. Mitteilungspflicht (§ 243 Abs. 4 StPO i.V.m. § 385 Abs. 1 AO)
Nach § 243 Abs. 4 S. 1 und 2 StPO ist über Erörterungen zu berichten, die außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist. Davon ist auszugehen, sobald bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand, also Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht wurden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung nahe lag. Dies ist der Fall, wenn der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer zwischen zwei Hauptverhandlungsterminen dem Verteidiger telefonisch mitgeteilt hat, dass die Kammer der Meinung sei, dass eine Einstellung des Verfahren...