1. Rechtsschutzbedürfnis bei einstweiligem Rechtsschutz gegen geringfügige steuerliche Nebenleistung
Mit Blick auf die Kleinbetragsverordnung hat das Gericht entschieden, dass in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren betreffend die Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheides bezüglich der Höhe der in Ansatz gebrachten Säumniszuschläge das Rechtsschutzbedürfnis fehlen kann, wenn die Aufhebung der Vollziehung eines Betrages von 4,50 EUR erstrebt wird. Das Gericht ging in dem Fall davon aus, dass das Interesse an dieser Entscheidung nicht schutzwürdig sei, da es nicht die Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen rechtfertige. Zwar enthalte die FGO keine allgemeine Bagatellgrenze für die Einlegung eines Rechtsbehelfs. Durch die Kleinbetragsverordnung in der Fassung vom 18.7.2016 (KBV) sei aber bestimmt, dass die Festsetzungen der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Erbschaftsteuer (Schenkungsteuer), Grunderwerbsteuer sowie der Rennwett- und Lotteriesteuer (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 KBV) nur geändert oder berichtigt werden könne, wenn die Abweichung von der bisherigen Festsetzung mindestens 10 EUR (zugunsten) bzw. 25 EUR (zu Lasten) des Steuerpflichten betrage. Für den Gewerbesteuermessbetrag bestimme § 2 KBV) Grenzen bei 2 EUR zugunsten bzw. 5 EUR zu Lasten des Steuerpflichtigen, so dass bei einem durchschnittlichen Gewerbesteuerhebesatz in Deutschland von etwa 400 % eine Änderung bei einer Zahllastauswirkung von bis zu 8 EUR bzw. 20 EUR ausgeschlossen werde. Für die Feststellung von Einkünften, die Rückforderung von Wohnungsbauprämien und die Kraftfahrzeugsteuer enthalte die §§ 3 bis 5 KBV ähnlich wirkende Vorgaben. Auch wenn für steuerliche Nebenleistungen – wie im Streitfall der Säumniszuschlag – keine allgemeine Bagatellgrenze normiert sei, unterhalb derer der Steuerpflichtige oder die Finanzverwaltung einen rechtswidrigen Steuerbescheid hinzunehmen haben, könne ein Unterschreiten der Bagatellgrenzen der Kleinbetragsverordnung als Indiz anzusehen sein, ob ein Rechtsschutzbedürfnis nach allgemeiner Anschauung als schutzwürdig anzuerkennen sei.
Ferner wies das Gericht darauf hin, dass der Antragsgegner im Fall eines zulässigen Rechtsbehelfs dem Antragsteller bei einem Streitwert von 10 % des auszusetzenden Betrages, also 0,45 EUR, dem Berater 111,96 EUR ersatzfähige Kosten zu erstatten hätte. Deshalb schloss sich der erkennende Senat der Rechtsprechung des Sozialgerichts Düsseldorf an, wonach ein Rechtsschutzbedürfnis verneint werden könne, wenn die Kosten der Rechtsverfolgung das 25-fache der einzuklagenden Summe betrügen (Sozialgericht Düsseldorf v. 4.8.1955 – V 539/54, Die Sozialgerichtsbarkeit – SGb – 1956, 263). Auch führte das Gericht aus, dass der Prozessbevollmächtigte eine Vielzahl von Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung von Abrechnungsbescheiden über Säumniszuschläge mit dem offensichtlichen Interesse verfolge, nicht ernsthaft die Aussetzung der Kleinstbeträge zu erreichen, sondern um die Kosten der Rechtsverfolgung erstattet zu bekommen.
FG Münster v. 30.5.2021 – 15 V 408/22
2. § 76 Abs. 2 FGO, § 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 GG – Überraschungsentscheidung
Aus Art. 103 Abs. 1 GG haben die Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, dass das Gericht sie auch in rechtlicher Hinsicht auf entscheidungserhebliche Erwägungen und Gesichtspunkte hinweist, mit denen sie erkennbar nicht gerechnet haben und auch nicht rechnen mussten (BFH v. 7.8.2002 – I R 45/01, BFH/NV 2003, 173, unter II.2.a). Dieser Grundsatz wird verletzt, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt stützt und dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen nicht rechnen musste. Dies könne u.a. der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (BFH v. 4.3.2020 – XI B 30/19, BFH/NV 2020, 611, Rz. 7).
Mit Berufung auf diese Grundsätze hat der BFH ein FG-Urteil aufgehoben, mit dem eine auf Aufhebung eines Bescheids über eine Zurechnungsfortschreibung gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen wurde. Die Unzulässigkeit beruhte darauf, dass die Einwendung der Klägerin, ein Dauernutzungsrecht nach § 31 Abs. 2 WEG an vier Tiefgaragenstellplätzen stelle kein Grundstück i.S.d. BewG dar, nach Ansicht des FG nicht durch eine Anfechtung der Zurechnungsfortschreibung, sondern durch einen Antrag auf Aufhebung des Einheitswerts i.S.d. § 24 BewG verfolgt werden könne. Dieser Gesichtspunkt sei jedoch weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren angesprochen worden. Nach Ansicht des BFH hätte das Gericht die Beteiligten trotz ihres Verzichts auf die mündliche Verhandlung darauf hinweisen müssen, dass aus seiner Sicht die Zulässigkeit der Klage problematisch sein könnte.
BFH v. 12.1.2022 – II R 11/20
3. § 91a FGO – Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz
Das FG Nürnberg, hat zu den Anforderungen bzgl. der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz Stellung genommen. Es hatte dem Begehren des Prozessbevollmächtigten nur unter Auflagen gestattet, an der mündlichen Verhandlung per Videokonf...