1. § 122 AO – Nachweis des Zugangs eines Steuerbescheides
Da die Klägerin keine Einkommensteuererklärung vorgelegt hatte, setzte der Beklagte die Einkommensteuer für das Jahr 2016, nach vorangegangener Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, unter dem 27.4.2018 mit einem unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid fest. Da nach 14 Monaten immer noch keine Steuererklärung eingegangen war übersandte der Beklagte den Klägern unter dem 5.8.2019 einen Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung bezüglich des Einkommensteuerbescheides für das Jahr 2016 und einen, gleichfalls auf einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen beruhenden, Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2017. Die in diesem Bescheid ausgewiesene Zahllast wurde von den Klägern fristgerecht per Überweisung beglichen.
Im Folgejahr führte der Beklagte beim Kläger eine Außenprüfung durch. Im Laufe dieser Prüfung übermittelten die Kläger den Beklagten am 10.6.2020 eine Einkommensteuererklärung für das Jahr 2016. Eine Änderung der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 2016 lehnte der Beklagte im Hinblick auf die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung im Jahre 2019 ab.
Die Kläger wandten dagegen ein, dass ihnen dieser Bescheid niemals bekannt gegeben worden sei, sie nur den Bescheid für das Jahr 2017 erhalten hätten. Daraufhin eingeleitete Nachforschungen des Beklagten ergaben, dass der Einkommensteuerbescheid 2016 am 26.7.2018 geändert und am 5.8.2019 durch das Rechenzentrum versandt wurde. Das Rechenzentrum teilte insoweit mit, dass der Einkommensteuerbescheid 2016 Inhalt der gleichen Druckdatei wie der Einkommensteuerbescheid 2017 gewesen sei. Die Sendung sei am 30.7.2019 und 10:57 Uhr mit dem Status "maschinell gut erfasst" kuvertiert und ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am 5.8.2019 11:00 Uhr zur Post eingeliefert worden. Ausweislich der für diese Sendung bestehenden Datei enthielt die Sendung fünf Blätter zur Steuernummer der Kläger und an deren Anschrift adressiert. Die Frankatur habe sich auf dem Einkommensteuerbescheid 2016, der auf zwei Blättern gedruckt gewesen sei befunden. Der Einkommensteuerbescheid 2017 habe keine Frankatur enthalten und sei auf drei Blättern gedruckt worden. Nur letztere habe eine Zahllast ausgewiesen.
Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage machten die Kläger geltend, dass der Versand des Bescheides für das Jahr 2017 nicht geeignet, sei den Nachweis über den Zugang des Bescheids für das Jahr 2016 zu erbringen.
Das Finanzgericht hat die Klage abgewiesen. Zwar trage der Beklagte die Beweislast für den Zugang des Bescheides. Dieser erforderliche Beweis könne allerdings nach den Grundsätzen des allgemeinen Beweisrechts, in besonderen Sache dem Indizienbeweis geführt werden. Dies sei vorliegend auch gelungen. Aufgrund der Auskunft des Rechenzentrums könne davon ausgegangen werden, dass die Bescheide gemeinsam erfasst konvertiert und abgesandt worden seien. Anhaltspunkte für einen technischen Fehler im Rechenzentrum bestünden nicht. Die vorgelegten Bescheide seien mit den Angaben des Rechenzentrums zur Druckdatei identisch. Sei somit davon auszugehen, dass beide Bescheide gemeinsam in einem Umschlag versandt worden seien, Belege der Umstand des Zugangs des unfrankierten Einkommensteuerbescheides für das Jahr 2017 geradezu zwangsläufig auch den Zugang des die Frankatur enthaltenen Bescheides für das Jahr 2016. Darauf, ob die Kläger diesen zur Kenntnis genommen habe, komme es nicht an. Unerheblich sei auch die spätere Übersendung einer als Abschrift bezeichneten Kopie des Bescheids. Diese löse keine neue Rechtsbehelfsfrist aus, da sie nicht von einem Bekanntgabewillen getragen gewesen sei, da sie lediglich der Information der Kläger gedient habe.
FG Münster v. 16.8.2022 – 6 K 2755/21 E
2. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO – Anwendung der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bei regelmäßiger zweitägiger Zustellungspause des privaten Postdienstleisters
Mit den neueren Entwicklungen bei der Briefzustellung hatte sich das FG Berlin-Brandenburg zu befassen: Am Freitag, dem 15.6.2018 erließ der Beklagte einen Einkommensteuerbescheid. Diesen übersandte er unmittelbar an die Klägerin. Diese war bis zum 19.6.2018 ortsabwesend. Nach ihrer Rückkehr übersandte sie den Bescheid an diesem Tag an ihren Bevollmächtigten, der am 19.7.2018 Einspruch einlegte. Diesen verwarf der Beklagte unter Hinweis auf die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als unzulässig.
Diese Rechtsansicht hat das Gericht nach einer Beweisaufnahme verworfen. Zwar stehe fest, dass der angegriffene Bescheid am 15.6.2018 zur Post aufgegeben worden sei. Jedoch greife im Streitfall die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht ein, weil der beauftragte Postdienstleister innerhalb der Drei-Tages-Frist nach dem 15.6.2018 an der Wohnung der Klägerin nicht regelmäßig an allen Werktagen zugestellt habe. Diesen Fall decke die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht ab. Die Vorschrift stamme aus einer Zeit, als ausschließlich die Deutsche Bundespost an sechs Tagen in der Woche Briefpost in der Bundesrepublik Deutschland befördert und zugestellt habe. Auch diesem Grunde erfasse die V...