1. § 122 AO – Bekanntgabe von Verwaltungsakten, wenn mehrere Bevollmächtigte schriftlich zum Empfang von Verwaltungsakten legitimiert sind
Wenn der Steuerpflichtige mehrere Bevollmächtigte zum Empfang von Verwaltungsakten bevollmächtigt, steht die Entscheidung, welchem davon sie einen Verwaltungsakt bekannt gibt, im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Dabei unterliegt sie jedoch den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen an gesetzmäßiges Verwaltungshandeln, wie dem Willkürverbot, dem Gebot der Kontinuität staatlichen Handelns sowie dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens.
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg es als ermessensfehlerhaft angesehen, wenn die Finanzbehörde eine ablehnende Entscheidung über einen Erlassantrag im Jahre 2023 unter Nichtbeachtung einer Spezialvollmacht aus dem Jahre 2022 an eine vor 13 Jahren allgemein empfangsbevollmächtigte Steuerkanzlei bekannt gibt, obwohl die Steuerpflichtige der Finanzbehörde im Jahr 2022 durch Vorlage einer weiteren, thematisch eingegrenzten (Empfangs-)Vollmacht angezeigt hatte, dass sie für den spezifischen Themenkreis der Reduzierung der Umsatzsteuer samt Nebenleistungen die behördliche Entscheidung an eine Rechtsanwaltskanzlei als Bevollmächtigte bekanntgegeben wissen wollte.
Als Rechtsfolge nahm das Gericht an, dass eine wirksame Bekanntgabe allein durch die Übersendung an den ausgewählten Bevollmächtigten nicht bewirkt werden konnte, sondern erst in analoger Anwendung von § 8 VwZG mit tatsächlicher Kenntnisnahme durch den später bevollmächtigten Rechtsbeistand.
FG Berlin-Brandenburg v. 18.6.2024 – 6 K 5129/23
2. § 122 Abs. 5 AO – Zustellung an eine polnische Anschrift per Einschreiben mit Rückschein
Das Sächsische FG hatte sich mit dem Zeitpunkt einer Zustellung durch Einschreiben mit Rückschein an eine polnische Anschrift zu befassen. Dazu hat es ausgeführt: Ordnet eine Behörde (hier die Familienkasse) die Zustellung eines Bescheides durch Einschreiben mit Rückschein an, so liegt darin gleichzeitig die Anordnung einer Zustellung i.S.d. § 122 Abs. 5 S. 1 AO. Daher gelten für die Zustellung gem. § 122 Abs. 5 S. 2 AO die Vorschriften des VwZG (hier § 4). Weil diese Vorschrift, jedoch zu den Einzelheiten, wie der Rückschein zu übergeben ist, keine Maßgaben enthalte, richte sich dies nach den einschlägigen allgemeinen Geschäftsbedingungen des Postdienstleisters. Da für die Zustellung in Polen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutschen Post AG keine Geltung erlangten, seien die allgemeinen Geschäftsbedingungen des mit der Zustellung befassten Postdienstleisters maßgeblich. Deren Inhalt sei nicht bekannt und auch der Beklagte habe dazu nichts vorgetragen. Daher sei nicht erkennbar, dass die vom Dienstleister vorgenommene Übergabe des Schriftstücks an die Schwester des Klägers zulässig und wirksam gewesen sei. Abzustellen sei daher nach Maßgabe von § 8 VwZG auf den Zeitpunkt in dem es dem Kläger tatsächlich zugegangen sei, er es also auf das tatsächliche "in den Händen gehalten" habe. Dies könne aber dem Rückschein nicht entnommen werden.
Sächsisches FG v. 19.5.2024 – 6 K 995/21 (Kg)
3. § 152 Abs. 1 AO – Anforderungen an das Ermessen
Nach Ansicht des FG Münster ergeben sich die zu berücksichtigenden Ermessenskriterien aus dem allgemeinen Grundsatz, dass die Finanzbehörde das ihr eingeräumte Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise auszuüben hat (BFH v. 20.5.2010 – V R 42/08, BStBl. II 2010, 955 = AO-StB 2010, 264). Die zu berücksichtigenden Ermessenskriterien sind dabei aus dem Zweck der Norm abzuleiten. An dem Zweck des Verspätungszuschlags, den rechtzeitigen Eingang der Steuererklärungen und die rechtzeitige Entrichtung der Steuer sicherzustellen sowie einen Ausgleich für aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile zu schaffen, habe sich aber durch die Neuregelung nichts geändert.
Daher setze eine ermessensfehlerfreie Festsetzung eines Verspätungszuschlags auch nach der Neuregelung in § 152 AO grundsätzlich voraus, dass die Finanzbehörde alle maßgeblichen Kriterien beachte und gegeneinander abwäge (dazu BFH v. 6.11.2012 – VIII R 19/09, BFH/NV 2013, 502).Da nach Ansicht des Gerichts im Fall wesentliche Ermessenserwägungen fehlten, hat das Gericht eine Heilung nach § 102 FGO ausgeschlossen.
FG Münster v. 14.6.2024 – 4 K 2351/23, Revision zugelassen
4. § 152 Abs. 2 AO – Kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gem. Art. 6 Abs. 2 EMRK
Der BFH hat mit ausführlicher Begründung entschieden, dass § 152 Abs. 2 AO keine Norm mit Strafcharakter im Sinne Art. 6 Abs. 2 EMRK ist. Er stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Verspätungszuschlag dazu dient, den rechtzeitigen Eingang der Steuererklärungen und damit auch die rechtzeitige Festsetzung und Entrichtung der Steuer sicherzustellen und in der Rechtsfolge nicht mit einem sozial-ethischen Unwerturteil verbunden sei. Auch spreche die Art und Schwere der angedrohten Höchstsanktion gegen eine Zuordnung zum Strafrecht (wird jeweils ausgeführt). § 152 Abs. 2 AO sei daher auch nicht konventionskonform dahingehend auszulegen, dass die Norm eine Entschuldigungsmöglichkeit beziehungsweise in der Rechtsfolge ein überprüfbares Ermessen vorsehen müsse.
BFH v. 4.6.2024 – VIII B 121/22
5. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO – Ausfall einer kreditierten Kaufpreisforderung als rückwirkendes Ereignis
Im Streitfall hatte der Kläger einen Mitunternehmeranteil verkauft und den Kaufpreis teilweise kreditiert. In der Folgeze...