Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
2.16.1 Grundsatz (§ 16 Absatz 1 BsGaV)
164 Schuldrechtliche Beziehungen zwischen einer Betriebsstätte und dem übrigen Unternehmen sind rechtlich nicht möglich. Stattdessen werden schuldrechtliche Beziehungen fingiert, die entsprechend der Funktions- und Risikoanalyse vorliegen würden, wenn die Betriebsstätte und das übrige Unternehmen rechtlich selbständige Unternehmen wären (§ 1 Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 AStG). Grundsätzlich können schuldrechtliche Beziehungen jeder Art fingiert werden (s. Rn. 5). Es ist die schuldrechtliche Beziehung anzunehmen, die den jeweils ausgeübten Personalfunktionen und übernommenen Risiken am besten entspricht.
165 Eine anzunehmende schuldrechtliche Beziehung setzt ein tatsächliches und identifizierbares Ereignis voraus (wirtschaftlicher Vorgang), das im Regelfall die jeweils ausgeübten Personalfunktionen betrifft. Es muss eine Schwelle überschritten werden, die es rechtfertigt, für dieses Ereignis anzunehmen, dass rechtlich selbständige, unabhängige Unternehmen in einer vergleichbaren Situation eine schuldrechtliche Vereinbarung abgeschlossen oder eine bestehende Rechtsposition geltend gemacht hätten (§ 1 Absatz 4 Satz 2 AStG, s. auch OECD-Betriebsstättenbericht, Teil I Tz. 35 und Tz. 176).
166 Eine anzunehmende schuldrechtliche Beziehung i.S.d. § 1 Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 AStG liegt insbesondere vor,
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wenn sich Personalfunktionen im Hinblick auf Vermögenswerte verändern (fiktiver Verkauf oder fiktive Nutzungsüberlassung), dazu gehören auch die wirtschaftlichen Vorgänge bei Beginn und Beendigung einer Betriebsstätte (s. § 3 Absatz 4 BsGaV), |
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wenn eine unterstützende Personalfunktion für eine andere Betriebsstätte erbracht wird (fiktive Dienstleistung), z.B. wenn eine Personalfunktion im Hinblick auf Risiken (z.B. Überwachung, Management) von einer Betriebsstätte ausgeübt wird, die nicht die maßgebliche Personalfunktion für die betreffenden Zuordnungsgegenstände ist (§§ 5 bis 11 BsGaV), |
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wenn voneinander unabhängige Dritte Rechtspositionen geltend machen würden. |
167 Die Gründe für das Vorliegen anzunehmender schuldrechtlicher Beziehungen und für die Art der anzunehmenden schuldrechtlichen Beziehungen sind aufzuzeichnen (s. § 3 BsGaV, Rn. 63). Die Aufzeichnungen des Unternehmens bilden im Regelfall den Ausgangspunkt für die Charakterisierung einer anzunehmenden schuldrechtlichen Beziehung i.S.d. § 1 Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 AStG i.V.m. § 16 BsGaV (s. auch OECD-Betriebsstättenbericht, Teil I Tz. 177 und Tz. 181). Für die Betriebsstättengewinnermittlung kommt der unternehmerischen Dispositionsfreiheit allerdings nur eine eingeschränkte Bedeutung zu, da die Zuordnungsgegenstände auf Grundlage der ausgeübten Personalfunktionen nach objektiven Kriterien zuzuordnen sind, wie z.B. materielle Wirtschaftsgüter nach der Nutzung. Deshalb haben die Aufzeichnungen nicht die gleiche Bedeutung wie rechtsgültige Verträge in Fällen des § 1 Absatz 1 AStG.
168 Im Rahmen der Regelungen zur Zuordnung von Zuordnungsgegenständen sind bereits eine Reihe von Fallgestaltungen angesprochen worden (s. Rn. 76 ff.), die auch für die Anwendung des § 16 BsGaV von Bedeutung sind. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird in folgender Übersicht auf verschiedene Beispielsfälle hingewiesen:
Vorgang |
Beispielsfall |
Entstrickung (allgemein) |
Rn. 20 |
Fiktive Veräußerung bei Zuordnungsänderung |
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– eines materiellen Wirtschaftsguts |
Rn. 62 (Fall 1) – Überführung Rn. 68 – Beendigung Rn. 76 (Fall 3) – Herstellung Rn. 77 – Nutzungswechsel Rn. 81 – Lieferung |
– eines immateriellen Vermögenswerts |
Rn. 62 (Fall 2) und Rn. 94 – Schaffung, danach keine Personalfunktion mehr Rn. 95 (Abwandlung 2) – ausschließliche Nutzung durch andere Betriebsstätte |
Nutzungsüberlassung |
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– eines materiellen Wirtschaftsguts |
Rn. 78 – vorübergehende Nutzung Rn. 79 – häufiger Nutzungswechsel |
– eines immateriellen Vermögenswerts |
Rn. 29 – Mitnutzung Rn. 94 – Abgrenzungsfall |
Erbringung von Dienstleistungen |
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– Forschungsleistung – Auftragsforschung – Beteiligungsverwaltung – Lohnfertigung – Einkaufsleistung – Schulungsleistung –Treasury-Leistung – kurzfristiges Darlehen – langfristiges bankinternes Darlehen |
Rn. 90 (Fall 1) Rn. 90 (Fall 2), Hinweis auf Rn. 94 Rn. 106 Rn. 80 Rn. 366 – aber Beistellung Rn. 391, Rn. 410 Rn. 180 Rn. 180Rn. 176, Rn. 191 (Fallvariante) Rn. 230 |
2.16.1.1 Zuordnungsänderung (§ 16 Absatz 1 Nummer 1 BsGaV)
169 Eine Änderung der Zuordnung, die nach § 16 Absatz 1 Nummer 1 BsGaV zu einem Übergang des fiktiven Eigentums an einem Zuordnungsgegenstand führt, tritt ein, wenn ein wirtschaftlicher Vorgang i.S.d. § 1 Absatz 4 AStG stattfindet, der zur Folge hat, dass ein Zuordnungsgegenstand, der bisher aufgrund der ausgeübten maßgeblichen Personalfunktion einer Betriebsstätte nach §§ 5 ff. BsGaV zuzuordnen war, ab einem bestimmten Zeitpunkt dem übrigen Unternehmen zuzuordnen ist oder umgekehrt (Zuordnungsänderung).
170 Erfolgt ein Wechsel der Zuordnung eines Vermögenswerts von einer Betriebsstätte zu einer anderen Betriebsstätte in einem anderen Staat, gilt der Vermögenswert zunächst als von der fiktiv veräußernden Betriebsstätte an das übrige Unternehmen und in ...