Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
Die Erteilung einer Nichtveranlagungs-Bescheinigung nach § 44a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG beendet nicht die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO.
Normenkette
§§ 38, 169 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2, 170 Abs. 1 1. Alt., Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 171 Abs. 3a AO, §§ 25 Abs. 3, 36 Abs. 1, 44 Abs. 1 Satz 2, 44a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 und Satz 4 EStG, § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStDV, § 68 Satz 1 FGO
Sachverhalt
Das FA erteilte K im Mai 2002 für 2001 bis 2003 eine Nichtveranlagungs-Bescheinigung (§ 44a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG). K erhielt 2002 vom früheren Arbeitgeber allerdings 120.000 EUR ohne Lohnsteuerabzug. Nachdem das FA davon erst 2009 erfahren und K vergeblich zur Abgabe der ESt-Erklärung aufgefordert hatte, setzte es mittels Schätzung die ESt im Dezember 2009 für 2002 fest. K berief sich dagegen vergeblich auf die NV-Bescheinigung und die Festsetzungsverjährung (FG Düsseldorf, Urteil vom 24.4.2012, 10 K 752/10 E, Haufe-Index 3114411, EFG 2012, 1323).
Entscheidung
Der BFH wies aus den unter den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen die Revision des K zurück. Die NV-Bescheinigung lässt den Fristablauf unberührt.
Hinweis
Der Besprechungsfall beschäftigt sich im Wesentlichen mit der steuerverfahrensrechtlichen Frage, inwieweit eine NV-Bescheinigung den Fristlauf der Festsetzungsfrist beeinflusst, indem die Bescheinigung etwa an die Stelle einer Einkommensteuererklärung tritt oder gar von der Verpflichtung befreit, eine Einkommensteuererklärung abzugeben.
1.Ausgangspunkt der entscheidenden Frage nach der Verjährung ist § 169 Abs. 1 Satz 1 AO; danach ist eine Steuerfestsetzung mit Ablauf der Festsetzungsfrist unzulässig. Der Fristablauf richtet sich nach dem Beginn der Festsetzungsfrist. Das regelt § 170 Abs. 1 1. Alt. AO: Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Das wäre hier der Ablauf des Jahres 2002, da ist der Einkommensteueranspruch entstanden (§ 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1 EStG). Aber: Dieser Grundsatz wird durchbrochen, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist (Pflichtveranlagung). Denn in diesen Fällen beginnt die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres, in dem die Erklärung eingereicht wurde, spätestens mit Ablauf des dritten Jahres (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO). Angesichts der Höhe des dem K zugeflossenen Lohns war K zur Abgabe der Einkommensteuererklärung 2002 verpflichtet (§ 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStDV). Dann bestimmt sich der Ablauf der Festsetzungsfrist wie folgt: Mangels Abgabe einer ESt-Erklärung begann die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 2005 (volle Dreijahresfrist) und endete frühestens (aufgrund der vierjährigen Festsetzungsfrist, § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) mit Ablauf des Jahres 2009.
2.Damit kam es nur noch auf Ks Einwand an, dass die Erteilung einer NV-Bescheinigung (§ 44a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG) die dreijährige Anlaufhemmung (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) abkürze oder ganz außer Kraft setze. Eine solche Wirkung konnte der BFH der NV-Bescheinigung indessen nicht beimessen: § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO soll der Finanzbehörde mehr Zeit einräumen, damit sie vom Steueranspruch erfährt und den Steuerfall prüfen kann (dazu: BFH, Urteil vom 29.1.2003, I R 10/02, BFH/NV 2003, 1243, BFH/PR 2003, 321). In die Lage wird die Finanzbehörde zwar versetzt, wenn ihr die Steuererklärung vorliegt. Eine NV-Bescheinigung kann das aber nicht leisten. Denn offenkundig gründet die Bescheinigung auf einer vagen Prognose, hat vorläufigen Charakter und wird deshalb auch zu Recht nur unter Widerrufsvorbehalt erteilt (§ 44a Abs. 2 Satz 2 EStG). Fazit: Eine NV-Bescheinigung ist kein Ersatz für eine Steuererklärung. Damit konnten auch im Klageverfahren noch Änderungen des Einkommensteuerbescheids erfolgen. Denn nach § 171 Abs. 3a Satz 1 AO ist der Lauf der Festsetzungsfrist gehemmt. Die Festsetzungsfrist läuft nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 15.5.2013 – VI R 33/12