a) Anforderungen an Änderungsantrag
Die Änderung von formell rechtskräftigen Bescheiden wegen neuer Tatsachen (§ 173 AO) ist auch zugunsten des Steuerpflichtigen möglich. Steuerpflichtige, die z.B. einen für sie günstigen Sachverhalt (z.B. in Form bislang nicht geltend gemachter Werbungskosten) in ihrer Steuererklärung nicht angegeben haben, können einen Änderungsantrag wegen nachträglich bekannt gewordener neuer Tatsachen oder Beweismittel stellen. Dieser wird jedoch nur dann Erfolg haben, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden trifft (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO).
b) Begriff "Grobes Verschulden"
Grobes Verschulden liegt vor, wenn der Steuerpflichtige vorsätzlich (wissentlich und willentlich in Kenntnis des Erfolgs) oder grob fahrlässig, d.h. unter Verletzung der ihm persönlich zuzumutenden Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise handelt. Fehler eines beauftragten Steuerberaters sind dem Steuerpflichtigen zuzurechnen (BFH v. 3.2.1983 – IV R 153/80, BStBl. II 1983, 324). Bei der Beurteilung des groben Verschuldens werden bei einem Steuerberater jedoch strengere Maßstäbe angelegt als bei einem steuerlich unversierten Laien (BFH v. 26.8.1987 – I R 144/86, BStBl. II 1988, 10).
Generell gilt, dass derjenige, der offenkundigen steuerlichen Pflichten (z.B. der Steuererklärungspflicht) nicht nachkommt, ebenso grob schuldhaft handelt (BFH v. 16.9.2004 – IV R 62/02, BStBl. II 2005, 75 = AO-StB 2005, 5, z.B. im Fall eines Schätzungsbescheids bei Nichtabgabe der Steuererklärung, FG Bremen v. 19.9.2019 – 1 K 20/19 (3), EFG 2019, 1880) wie derjenige, der ausdrücklich gestellte Fragen und Hinweise in amtlichen Erläuterungen nicht beachtet oder Fragen wider besseren Wissens verneint (BFH v. 23.10.2002 – III R 32/00, BFH/NV 2003, 441).
Nicht grob schuldhaft handelt dagegen, wer sich in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befindet (BFH v. 21.7.1989 – III R 303/84, BStBl. II 1989, 960) oder der Vorgänge aus Rechtsunkenntnis unbeachtet lässt (BFH v. 21.9.1993 – IX R 63/90, BFH/NV 1994, 99). Daher spricht das Unterlassen von Angaben zu einem im Erklärungsvordruck nicht vorgesehenen Punkt insb. dann gegen ein grob schuldhaftes Verhalten, wenn der Erklärungsvordruck den Eindruck erweckt, diese Angaben seien steuerlich nicht relevant (BFH v. 9.11.2011 – X R 53/09, BFH/NV 2012, 545 = AO-StB 2012, 109).
Werden Einnahmen eines angestellten Chefarztes aus der Erbringung wahlärztlicher Leistungen im Rahmen der Einkommensteuererklärung irrtümlich sowohl bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit als auch bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erklärt, weil weder der Chefarzt noch sein Steuerberater erkannt haben und nach den Umständen des Streitfalls auch nicht erkennen mussten, dass diese Einnahmen bereits dem Lohnsteuerabzug unterlegen haben, liegt kein "grobes Verschulden" i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vor (BFH v. 18.4.2023 – VIII R 9/20, AO-StB 2023, 199 (Reddig)). Grobes Verschulden hat das FG Bremen verneint bei der dem Steuerpflichtigen erst nachträglich bekannt gewordenen Abzugsmöglichkeit für Unterhaltsleistungen an die das neugeborene gemeinsame Kind betreuende Lebensgefährtin (FG Bremen v. 22.2.2018 – 1 K 7/17 (5), EFG 2018, 1086).
c) Prüfung des groben Verschuldens
Bei Prüfung der Frage, ob grobes Verschulden vorliegt, sind folgende Grundsätze zu beachten:
- Der Steuerpflichtige ist verpflichtet, die Erläuterungen zu Erklärungsformularen sorgfältig zu lesen und sie zu beachten, sofern sie für einen steuerlichen Laien klar, eindeutig und verständlich sind (BFH v. 23.1.2001 – XI R 42/00, BStBl. II 2001, 379 = AO-StB 2001, 35).
- Der steuerliche Laie ist grundsätzlich auch nicht verpflichtet, sachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Anders ist dies jedoch, wenn sich ihm Zweifel aufdrängen (oder hätten aufdrängen müssen), ob er seinen steuerlichen Pflichten ohne fachkundigen Rat nachzukommen imstande ist. Wer hier die Inanspruchnahme fachlicher Hilfe unterlässt, handelt regelmäßig grob fahrlässig (BFH v. 6.10.2004 – X R 14/02, BFH/NV 2005, 156).
- Wer dagegen aus steuerlicher Unkenntnis an der Komplexität und zunehmenden Verkomplizierung des Steuerrechts scheitert, ohne durch entsprechend eindeutige Hinweise in Erklärungsvordrucken oder Erläuterungen "bösgläubig" gemacht worden zu sein, wird mit einem Änderungsantrag auf nachträgliche Berücksichtigung neuer Tatsachen Erfolg haben.
d) Unbeachtlichkeit des groben Verschuldens
Eine Besonderheit beinhaltet § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO, wonach das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen unbeachtlich ist, wenn die neuen Tatsachen und Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln zu Ungunsten des Steuerpflichtigen stehen. Die Vorschrift ist gem. § 181 Abs. 1 S. 1 AO sinngemäß auf einen Gewinnfeststellungsbescheid für eine Personengesellschaft auch dann anzuwenden, wenn sich eine gegenläufige Änderung (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) aus einem anderen Bescheid (z.B. dem Einkommensteuerbescheid für einen feststellungsbeteiligten Gesellschafter) ergibt (BFH v. 10.9.2020 – IV R 6/18, BStBl. II 2021, 1...