Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersgrenze durch Tarifvertrag mit europäischen Recht vereinbar?
Tenor
1. Das Arbeitsgericht Hamburg bittet den Europäischen Gerichthof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 234 EG zur Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG um die Beantwortung folgender Fragen:
Frage 1: „Sind nach Inkrafttreten des AGG kollektivrechtliche Regelungen, die nach dem Merkmal Alter differenzieren, mit dem Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der „Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000” vereinbar, ohne dass das AGG dies (wie früher in § 10 Satz 3 Nr. 7 AGG) ausdrücklich gestattet?”
Frage 2: „Verstößt eine innerstaatliche Regelung, die dem Staat, den Tarifvertragsparteien und den Parteien eines einzelnen Arbeitsvertrags erlaubt, eine automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen zu einem bestimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Lebensjahres) zu regeln, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der „Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000”, wenn in dem Mitgliedstaat seit Jahrzehnten ständig entsprechende Klauseln auf die Arbeitsverhältnisse fast aller Arbeitnehmer angewendet werden, gleichgültig, wie die jeweilige wirtschaftliche, soziale, demographische Situation und die konkrete Arbeitsmarktlage war?”
Frage 3: „Verstößt ein Tarifvertrag, der es dem Arbeitgeber erlaubt, Arbeitsverhältnisse zu einem bestimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Lebensjahres) zu beenden, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der „Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000”, wenn in dem Mitgliedstaat seit Jahrzehnten ständig entsprechende Klauseln auf die Arbeitsverhältnisse fast aller Arbeitnehmer angewendet werden, gleichgültig, wie die jeweilige wirtschaftliche, soziale und demographische Situation und die konkrete Arbeitsmarktlage ist?”
Frage 4: „Verstößt der Staat, der der einen Tarifvertrag, der es dem Arbeitgeber erlaubt, Arbeitsverhältnisse zu einem bestimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Lebensjahres) zu beenden, für allgemeinverbindlich erklärt und diese Allgemeinverbindlichkeit aufrecht erhält, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der „Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000”, wenn dies unabhängig von der jeweils konkreten wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Situation und unabhängig von der konkreten Arbeitsmarktlage erfolgt?”
2. Der Rechtsstreit wird bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH ausgesetzt.
Gründe
1. Der vom Arbeitsgericht Hamburg zu entscheidende Rechtsstreit der Frau G.R. gegen die Firma O. GmbH dreht sich um die Frage, ob ein Tarifvertrag wirksam ist, der die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen des Erreichens des 65. Lebensjahres vorsieht.
2. In der Bundesrepublik Deutschland ist es weit verbreitet, dass die Tarifvertragsparteien den gesetzlichen Kündigungsschutz modifizieren. Das betrifft die Kündigungsfristen, in vielen Tarifverträgen existieren aber auch Senioritätsregelungen (Eine Regelung, die nach dem Merkmal „Alter” differenziert, wird im Folgenden als „Senioritätsregelung” bezeichnet.).
In einigen Tarifbereichen bestehen keine oder nur begrenzt eigenständige kündigungsschutzrechtliche Regelungen, stattdessen wird auf die gesetzlichen Bestimmungen verwiesen (Dazu gehören: Bekleidungsindustrie Bayern, Textilindustrie Baden-Württemberg, Papier verarbeitende Industrie Westfalen, Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie Sachsen, privates Verkehrsgewerbe NRW.). In anderen Bereichen werden die gesetzlichen Regelungen in die Tarifverträge übernommen (z.B. im Kfz-Gewerbe NRW.).
In der Regel werden neben der Grundkündigungsfrist weitere Stufen definiert. Die Zahl der zusätzlichen Abstufungen reicht von drei (z. B. bayerische Landwirtschaft.) bis zu acht (z. B. chemische Industrie, Süßwarenindustrie West.). In der Mehrzahl der Fälle folgt die Abstufung der Kündigungsfristen der Dauer der Betriebszugehörigkeit. In der höchsten Stufe variiert die Zahl der erforderlichen Jahre der Betriebszugehörigkeit in der Regel zwischen 12 und 20. Die Kündigungsfristen erreichen in dieser obersten Stufe zwischen 6 Wochen zum Wochenende (Textilindustrie Baden-Württemberg.) und 12 Monate zum Quartalsende (Landwirtschaft Bayern.).
Gelegentlich ist die Kündigungsfrist an eine Kombination aus Lebensalter und Betriebszugehörigkeit geknüpft. So beträgt in der chemischen Industrie die maximale Kündigungsfrist 6 Monate zum Quart...