Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Krankheitskosten, denen es objektiv an der Eignung zur Heilung oder Linderung mangelt, können zwangsläufig erwachsen, wenn der Steuerpflichtige an einer Erkrankung mit einer nur noch begrenzten Lebenserwartung leidet, die nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht.
2. Dies gilt selbst dann, wenn sich der Steuerpflichtige für eine aus schulmedizinischer oder naturheilkundlicher Sicht nicht anerkannte Heilmethode entscheidet.
3. Ihre Grenze findet die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für Außenseitermethoden nach § 33 EStG allerdings, wenn die Behandlung von einer Person vorgenommen wird, die nicht zur Ausübung der Heilkunde zugelassen ist.
Normenkette
§ 33 EStG
Sachverhalt
H, mittlerweile verstorben, hatte Krebs der Bauchspeicheldrüse und wurde 2006 operiert. Danach wählte H statt konventionelle Chemotherapie immunbiologische Krebsabwehr mit Ukrain, Sauerstoff, Ozon und zahlte dafür 30 000 EUR an den behandelnden Hausarzt B (Facharzt für Allgemeinmedizin, Chirotherapie, Naturheilverfahren). Laut B war Chemotherapie infolge Hs operationsbedingt geschwächten Gesundheitszustand und einer Tumorkachexie nicht möglich. B bescheinigte, dass die immunbiologische Krebsabwehrtherapie weiterhin medizinisch notwendig sei.
Die Krankenkasse lehnte die Kostenerstattung ab. Im Einspruchsverfahren kam der Amtsarzt zu folgendem Ergebnis: "Diese Untersuchungen legen die Möglichkeit sehr nahe, dass Ukrain zukünftig möglicherweise eine interessante Medikation für die Onkologie werden könnte. ... Soweit sich jemand bei fraglicher Effektivität schulmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten auch zur Vermeidung Lebensqualität reduzierender Nebenwirkungen dann für einen alternativ medizinischen Behandlungsweg einer immunbiologischen Krebsabwehrtherapie entscheidet, sehe ich amtsärztlicherseits vergleichbar die Voraussetzungen für die Anerkennung einer außergewöhnlichen Belastung."
Das FG berücksichtigte nach Einholung eines klinisch-pharmakologischen Sachverständigengutachtens die Aufwendungen nicht als außergewöhnliche Belastung (Niedersächsisches FG, Urteil vom 08.01.2009, 11 K 490/07, Haufe-Index 2146334, EFG 2009, 752).
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf und gab der Klage auf Berücksichtigung der Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung statt.
Hinweis
Der BFH bejaht hier außergewöhnliche Belastungen für einen Sonderfall: Der Steuerpflichtige entschied sich in einer notstandsähnlich ausweglosen Situation für Palliativmedizin, die Schulmedizin und Naturheilkunde nicht als Heilmethode anerkennen.
1. Krankheitskosten sind ungeachtet der Art und Ursache der Krankheit außergewöhnliche Belastungen (aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig), soweit zu Heilungszwecken oder mit dem Ziel die Krankheit erträglich zu machen, also medizinisch indiziert, getätigt. Nicht dazu zählt vorbeugender, der Gesundheit allgemein dienender Aufwand; Beispiele für Abgrenzungen (im Besprechungsurteil zitiert): Badekur auf Ibiza, Frischzellenbehandlung, rezeptfreie Arzneimittel, Heilkur, Anonyme Alkoholiker, Ayur-Veda, Delfintherapie, Bett mit Motoraufrichtung, Asbestsanierung, neue Möbel wegen Formaldehyd, sozialtherapeutische Wohngruppe, Beseitigung von Birken, Asbestbeseitigung, Fettabsaugung.
2. Im Streitfall wurde die Außergewöhnlichkeit nicht mit der medizinischen Notwendigkeit der Maßnahme, sondern – angesichts des nahen Todes – mit der Ausweglosigkeit der Lebenssituation des Steuerpflichtigen und dem dann zu akzeptierenden "Griff nach jedem Strohhalm" als tatsächlich zwangsläufig beurteilt. Die Grenze sieht der BFH solange nicht überschritten, wie die therapeutische Maßnahme nicht auf der Ebene von Geister- oder Wunderheilern liegt, sondern von einer gesetzlich zur Ausübung der Heilkunde zugelassene Person (Facharzt B) durchgeführt worden ist.
3. Die in weiteren Revisionsverfahren demnächst zur Entscheidung anstehenden Fragen, ob stets vor der Durchführung einer medizinischen Maßnahme und nur durch ein amtsärztliches Gutachten (VI R 17/09; VI R 18/09) die entsprechenden Nachweise zu führen sind, konnten hier dahinstehen. Ebenso, ob bei Ehegatten der eine oder andere die Kosten getragen hatte; insoweit gilt der "Einheitsgedanke".
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 02.09.2010 – VI R 11/09