Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Das jederzeitige Bereitstehen für einen eventuellen Pflegeeinsatz bei behinderten Angehörigen ("Pflege auf Abruf") ist kein besonderer Umstand, der die generelle Erwerbsobliegenheit volljähriger Personen entfallen lässt.
2. Der Steuerpflichtige hat grundsätzlich nachzuweisen, dass sich die unterhaltene Person um eine Beschäftigung bemüht hat. Fehlt es hieran, kommt eine Schätzung der (fiktiven) Einkünfte in Betracht.
Normenkette
§ 33a Abs. 1 Sätze 1, 3, 4 und 5 EStG, § 90 Abs. 2 AO, § 1602 Abs. 1 BGB, §§ 35 Satz 2, 235 Abs. 2 SGB VI
Sachverhalt
K unterstützte ihre in Russland lebende 60-jährige Mutter M, die seit fünf Jahren Altersrente und staatliche Sozialleistungen erhielt. M unterstützte ihre eigene, 82-jährige Mutter, Ks Oma, die allein in der Ukraine lebte und lebenslange Pflege benötigte (3 Tage mit ambulantem Pflegedienst, ansonsten freiwillig Os Nachbarn). M musste dadurch immer wieder schnell anreisen, um O zu pflegen. Die von K geltend gemachten Unterhaltszahlungen für M (§ 33a Abs. 1 EStG) ließ das FA unberücksichtigt, weil M als eine im Ausland lebende Person im erwerbsfähigen Alter bis 65 Jahre grundsätzlich eine Erwerbsobliegenheit treffe. Das FG entsprach dagegen der Klage auf Abzug der Unterhaltsleistungen (FG Köln, Urteil vom 6.11.2013, 3 K 2728/10, Haufe-Index 6707433, EFG 2014, 1007).
Entscheidung
Der Senat hob die Vorentscheidung auf und wies die Sache an das FG zurück, wie in den Praxis-Hinweisen erläutert.
Hinweis
Das Besprechungsurteil führt die Rechtsprechung zur gesetzlichen Unterhaltsberechtigung i.S.d. § 33a Abs. 1 Satz 1 EStG fort, die an die zivilrechtlichen Voraussetzungen des Unterhalts anknüpft. Hierzu gehören auch die hier im Streitfall entscheidungserheblichen Erwerbsobliegenheiten.
1. Unterhaltsaufwendungen gegenüber "gesetzlich unterhaltsberechtigten Personen" können vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden (§ 33a Abs. 1 EStG 2008). Angesichts dieses Tatbestands knüpft der BFH an die zivilrechtlichen Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs – Anspruchsgrundlage, Bedarf und Bedürftigkeit, Leistungsfähigkeit – an. Dementsprechend ist die Bedürftigkeit des Unterhaltsempfängers festzustellen, und zwar nicht durch typisierende Unterstellung, sondern konkret (BFH, Urteil vom 27.7.2011, VI R 62/10, BFH/NV 2012, 170, m.w.N.). Zu klären ist also, ob er außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 BGB). Mögliche Einkünfte aus unterlassener, aber zumutbarer Erwerbstätigkeit stehen der Bedürftigkeit entgegen.
2. Volljährige Personen – wie hier M – trifft eine generelle Erwerbsobliegenheit, wenn nicht besondere Umstände (Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit) entgegenstehen. Zu diesen besonderen Umständen gehört – insoweit widerspricht der BFH dem FG – nicht das "jederzeitige Bereitstehen" für einen eventuellen Pflegeeinsatz. Denn "Pflege auf Abruf" ist hier nicht unmittelbar durch die unterhaltene Person, sondern durch Dritte oder Drittinteressen veranlasst. Die zivilrechtlich strengen Grundsätze beim Verwandtenunterhalt fordern Eigenverantwortung, d.h. eine Person muss grundsätzlich bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (§§ 35, 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) ihre Arbeitskraft voll nutzen, um ihren Lebensbedarf selbst zu erwirtschaften, bevor sie einen Verwandten auf Unterhalt in Anspruch nehmen kann. Dabei hat sie die Zeit aufzubieten, die ein Erwerbstätiger für seinen Beruf aufwendet, bei lang anhaltender Arbeitslosigkeit ist auch ein Orts- und Berufswechsel zumutbar. Dies gilt auch für Unterhaltspflichtige im Ausland, denn es gelten die inländischen Maßstäbe (§ 33a Abs. 1 Satz 5 Halbsatz 2 EStG). Die Erwerbsobliegenheit entspricht dem des zum Barunterhalt verpflichteten Elternteils gegenüber einem minderjährigen Kind, zivilrechtlich die sog. gesteigerte Unterhaltsobliegenheit. Arbeitslosigkeit kann zwar eine Bedürftigkeit begründen, ordnungsgemäße Bemühungen um eine Beschäftigung sind allerdings substanziiert darzulegen.
3. Hier hatte das FG keine Feststellungen zu Ms Bemühungen um eine Erwerbstätigkeit getroffen und auch nicht geprüft, ob gegebenenfalls (fiktive) Einkünfte bei der Bedürftigkeitsprüfung – ggf. auch schätzweise – anzusetzen sind. Die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung wird hier ergänzt durch gesteigerte Mitwirkungspflichten der M angesichts des Auslandssachverhalts (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO; § 90 Abs. 2 AO).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 15.4.2015 – VI R 5/14