Leitsatz
Bei summarischer Prüfung bestehen für Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 keine ernstlichen Zweifel an der Vereinbarkeit von §§ 233a, 238 Abs. 1 AO mit dem Unionsrecht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn bei einer zeitlichen Verlagerung des Vorsteuerabzugs und der sich hieraus ergebenden zweifachen Anwendung von § 233a AO in Bezug auf mehrere Besteuerungszeiträume, die einerseits zum Entstehen von Erstattungs- und anderseits zum Entstehen von Nachzahlungszinsen führt, die Erstattungs- die Nachzahlungszinsen erheblich übersteigen.
Normenkette
§ 233a, § 238 Abs. 1 AO, § 69 FGO, Art. 273 EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Die Antragstellerin bezog in den Jahren 2008 bis 2011 im Inland steuerpflichtige Eingangsleistungen. Für diese Jahre ergaben sich aufgrund von Vorsteuerüberhängen Vergütungsansprüche zugunsten der Antragstellerin. Im Anschluss an eine Außenprüfung versagte das FA mit mehreren Änderungsbescheiden den von der Antragstellerin für diese Jahre in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug von insgesamt 53.569.270,94 EUR, da die diesem zugrunde liegenden Rechnungen mangels hinreichender Angaben nicht ordnungsgemäß seien und den von den Lieferanten hierzu im September 2014 vorgenommenen Rechnungsberichtigungen keine Rückwirkung zukäme. Aufgrund der Rechnungsberichtigungen stimmte das FA am 3.11.2015 der Umsatzsteuerjahreserklärung 2014 zu, in welcher der sich ohnehin für dieses Jahr ergebende Vergütungsanspruch um 53.569.270,94 EUR erhöht wurde. Die sich für die Jahre 2008 bis 2011 ergebenden und zudem nach § 233a AO zu verzinsenden Nachforderungsansprüche wurden mit dem betragsgleichen, aber nicht nach § 233a AO zu verzinsenden Erstattungsanspruch für das Jahr 2014 verrechnet.
Auf Klage der Antragstellerin gegen die Abzugsversagung für das Jahr 2008 entschied das FG, dass die Antragstellerin entgegen der Rechtsauffassung des FA bereits im Jahr 2008 zum Vorsteuerabzug berechtigt gewesen sei.
Im Anschluss hieran änderte das FA die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2008 bis 2011 erneut und machte die von ihm zuvor angenommene Verlagerung des Vorsteuerabzugs aus den Jahren 2008 bis 2011 in das Jahr 2014 rückgängig. Daher wurde in den Änderungsbescheiden vom 26.7.2018 der Vorsteuerabzug, wie von der Antragstellerin ursprünglich angenommen, gewährt. Die für diese Jahre aufgrund der ursprünglichen Änderungsbescheide angenommene Verzinsung zulasten der Antragstellerin entfiel. Stattdessen kam es nunmehr für die Jahre 2008 bis 2011 zu einer Festsetzung von Erstattungszinsen nach § 233a AO i.H.v. 8.571.075 EUR. Zudem änderte das FA mit Bescheid vom 11.6.2018 die Umsatzsteuerfestsetzung für 2014 und machte insoweit den nunmehr wieder zeitlich vorverlagerten Vorsteuerabzug rückgängig. Gleichzeitig wurden in diesem Bescheid Nachzahlungszinsen nach § 233a AO i.H.v. 6.964.002 EUR festgesetzt. Es kam wiederum zu einer Verrechnung der sich nunmehr für die Jahre 2008 bis 2011 ergebenden Erstattungsansprüche mit der Nachforderung für 2014.
Gegen die Zinsfestsetzung für 2014 legte die Antragstellerin ohne Erfolg Einspruch ein und beantragte – ebenso ohne Erfolg – AdV. Auch die Klage und der beim FG gestellte Aussetzungsantrag blieben erfolglos (FG Düsseldorf, Urteil vom 12.5.2023, 1 V 115/23 A (U), Haufe-Index 15764562).
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz.
Hinweis
1. Im Nachgang zur Entscheidung des BVerfG, dass die Vollverzinsung nach § 233a AO verfassungswidrig ist, dies aber für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 31.12.2018 nicht beanstandet wird (BVerfG-Beschluss vom 8.7.2021, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BFH/NV 2021, 1455, BVerfGE 158, 282), stellt sich im Bereich der USt die Frage, ob der vom BVerfG angenommene Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitsverstoß ebenso auch aus dem Unionsrecht, aber ohne zeitliche Einschränkung abgeleitet werden könnte. Die Vollverzinsung zur USt wäre dann unionsrechtswidrig.
2. Der BFH verneint vorliegend in einem summarischen Verfahren in dieser Weise aus dem Unionsrecht abgeleitete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vollverzinsung für Zeiträume bis zum 31.12.2018. Dabei verzichtet der BFH auf eine inhaltliche Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung, da er das Unionsrecht bereits dem Grunde nach als nicht einschlägig ansieht.
3. Seine Entscheidung begründet der BFH wie folgt:
a) Das Unionsrecht enthält keine eigenständigen Regelungen, die eine Vollverzinsung unter für den zinsverpflichteten Unternehmer günstigeren Bedingungen vorschreibt.
b) Der Vollverzinsung kommt eine Ausgleich-, nicht aber eine Sanktionswirkung zu, sodass keiner Bestimmung der Richtlinie und damit auch nicht Art. 273 MwStSystRL Einschränkungen in Bezug auf die Ausgestaltung der Zinsregelung zu entnehmen sind.
c) Auf dieser Grundlage bleibt es mehrwertsteuerrechtlich beim Grundsatz der Verfahrensautonomie, nach dem die Mitgliedstaaten die Regelungshoheit zum Verfahrensrecht, zu dem auch die Verzinsung gezählt werden kann, zusteht, wenn die Mitgliedstaaten dabei die Grundsätze de...