Entscheidungsstichwort (Thema)
AGG-Diskriminierung eines Bewerbers. Status als Bewerber. Rechtsmissbrauch
Orientierungssatz
1. Nach deutschem Recht ist derjenige nicht Bewerber nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG und damit nicht Beschäftigter iSd. § 7 Abs. 1 AGG, der nicht eine Einstellung oder Beschäftigung anstrebt, sondern die Bewerbung nur abgibt, um den (formellen) Status als Bewerber zu erlangen.
2. Ob eine solche rein formale oder auch Scheinbewerbung vorliegt, kann sich aus den Umständen der Bewerbung, insbesondere dem Bewerbungsschreiben ergeben.
3. Die einschlägigen Richtlinien des Unionsrechts schützen allerdings nicht „Bewerber/Bewerberinnen”, sondern diejenigen, die „Zugang zur Beschäftigung” oder „zu abhängiger Erwerbstätigkeit” suchen. Ob das Unionsrecht dafür das Vorliegen einer eingereichten formalen Bewerbung ausreichen lässt oder ob ernsthafter Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit gesucht werden muss, ist eine Frage der Auslegung, die allein dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten ist.
4. Hilfsweise hat der Senat die Frage gestellt, ob bei Schutz auch der nur formalen Bewerber ihr Vorgehen im Einzelfall nach Unionsrecht als rechtsmissbräuchlich beurteilt werden könnte.
Normenkette
AGG §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 S. 2, § 7 Abs. 1, §§ 15, 22; RL 2000/78/EG Art. 3 Abs. 1 Buchst. a; RL 2006/54/EG Art. 14 Abs. 1 Buchst. a
Verfahrensgang
Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gem. Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
Sind Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) dahin gehend auszulegen,
dass auch derjenige „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit” sucht, aus dessen Bewerbung hervorgeht, dass nicht eine Einstellung und Beschäftigung, sondern nur der Status als Bewerber erreicht werden soll, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können?
Falls die erste Frage bejaht wird:
Kann eine Situation, in der der Status als Bewerber nicht im Hinblick auf eine Einstellung und Beschäftigung, sondern zwecks Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen erreicht wurde, nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt.
Tatbestand
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten vor allem um Entschädigungsansprüche des Klägers, daneben auch um Ersatz des materiellen Schadens und um Unterlassungsansprüche, weil der Kläger der Auffassung ist, bei der Ablehnung seiner Bewerbung um eine ausgeschriebene Stelle wegen seines Alters und seines Geschlechts diskriminiert worden zu sein.
Die Beklagte gehört als Versicherungsgesellschaft zu einer der größten Versicherungsgruppen Deutschlands. Der 1973 geborene Kläger ist ein vollausgebildeter Jurist. Nach dem Studium hat er 1999 die Erste Juristische Staatsprüfung mit der Note „befriedigend” bestanden. Nach dem zweiten Ausbildungsabschnitt im staatlichen Vorbereitungsdienst hat er die Zweite Juristische Staatsprüfung mit „ausreichend” bestanden. Seit August 2002 ist er überwiegend als selbständiger Rechtsanwalt tätig. Diese Tätigkeit hat er 2008 unterbrochen und hat in Stellenbosch (ZA) erfolgreich einen Studiengang mit dem Abschluss eines „Master of Laws” absolviert.
Im März 2009 schrieb die Beklagte ein „Trainee-Programm 2009” aus, mit dem sie „Bewerber (m/w) der Fachrichtungen Wirtschaftswissenschaften, (Wirtschafts-)Mathematik, (Wirtschafts-)Informatik und Jura” suchte. Als Anforderungskriterien nannte die Ausschreibung einen sehr guten Hochschulabschluss in einer der Fachrichtungen, der nicht länger als ein Jahr zurückliegt oder innerhalb der nächsten Monate erfolgt und qualifizierte, berufsorientierte Praxiserfahrung, zum Beispiel durch Ausbildung, Praktika oder Werkstudententätigkeit. Für Bewerbungen im Bereich Jura kam hinzu: das erfolgreiche Absolvieren beider Staatsexamina und eine arbeitsrechtliche Ausrichtung oder medizinische Kenntnisse. Der Kläger bewarb sich um eine Trainee-Stelle der Fachrichtung Jura. Der Bewerbung fügte er einen Lebenslauf sowie weitere Unterlagen bei. Der Kläger betonte im Bewerbungsschreiben, dass er als früherer leitender Angestellter einer Rechtsschutzversicherung über Führungserfahrung verfüge. Derzeit besuche er einen Fachanwaltskurs für Arbeitsrecht. Er führte weiter aus, wegen des Todes seines Vaters betreue er ein umfangreiches medizinrechtliches Mandat und verfüge daher im Medizinrecht über einen erweiterten Erfahrungshorizont. Als ehemaliger leitender Angestellter und Rechtsanwalt sei er es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zu arbeiten.
Am 19. April 2009 lehnte die Beklagte die Bewerbung des Klägers ab. Sie könne ihm derzeit keine Einsatzmöglichkeit anbieten. Der Kläger machte am 11. Juni 2009 bei der Beklagten schriftlich einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 14.000,00 Euro wegen Altersdiskriminierung geltend. Daraufhin lud ihn die Beklagte für Anfang Juli 2009 zu einem Vorstellungsgespräch bei ihrem Personalleiter ein. Die Absage sei „automatisch generiert” worden und habe „so nicht den Intentionen entsprochen”. Der Kläger lehnte die Einladung ab und schlug vor, nach Erfüllung des von ihm geltend gemachten Entschädigungsanspruches dann „sehr rasch über meine Zukunft bei der Versicherung” zu sprechen.
Der Kläger erhob bei dem Arbeitsgericht Wiesbaden eine Klage auf Entschädigung wegen Altersdiskriminierung in Höhe von 14.000,00 Euro. Diese begründete er mit der von ihm als diskriminierend empfundenen Formulierung der Ausschreibung. Dann erfuhr der Kläger, dass die Beklagte die vier Trainee-Stellen für Jura ausschließlich mit Frauen besetzt hatte, während bei den über 60 Bewerbungen die Verteilung auf die Geschlechter fast paritätisch gewesen war. Daraufhin machte der Kläger aufgrund einer Diskriminierung wegen des Geschlechts eine weitere Entschädigung in Höhe von 3.500,00 Euro geltend.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung des Klägers blieb vor dem Hessischen Landesarbeitsgericht ohne Erfolg. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger das Ziel seiner Klage weiter.
Entscheidungsgründe
B. Rechtlicher Rahmen
Die Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der Antidiskriminierung wurden im deutschen Recht mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897) umgesetzt.
§ 1 AGG lautet:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.”
Die Benachteiligung aus einem dieser Gründe ist verboten, § 7 Abs. 1 AGG:
„Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.”
„Beschäftigte” iSd. § 7 Abs. 1 AGG sind nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG auch:
„Als Beschäftigte gelten auch die Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis sowie die Personen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist.”,
da nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG der Bereich des Zugangs zur Beschäftigung zu schützen ist:
„(1) Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf:
- die Bedingungen, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen, für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, sowie für den beruflichen Aufstieg”.
Beschäftigte, also auch Bewerberinnen und Bewerber, die einer verbotenen Benachteiligung ausgesetzt sind, können Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens verlangen:
„§ 15 Entschädigung und Schadensersatz |
(1) |
Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. |
(2) |
Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. |
…” |
|
Nach dem deutschen Zivilprozessrecht trägt grundsätzlich der Anspruchsteller die Darlegungslast und die Beweislast. Ein Kläger muss also die den Anspruch begründenden Tatsachen darlegen und im Streitfall auch beweisen. Für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen sieht jedoch § 22 AGG eine Erleichterung der Darlegungslast und eine Beweislastumkehr vor:
„Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.”
Für die Vermutungswirkung des § 22 AGG ist es unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91 – zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 85, 191) ausreichend, dass ein in § 1 AGG genannter Grund „Bestandteil des Motivbündels” ist, das zur Entscheidung geführt hat. Dabei ist es nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist. Er muss weder vorherrschender Beweggrund noch Hauptmotiv oder „Triebfeder” des Verhaltens gewesen sein. Eine bloße Mitursächlichkeit genügt (vgl. BAG 26. September 2013 – 8 AZR 650/12 – Rn. 25). Danach darf bei einer Entscheidung über eine Stellenbesetzung kein in § 1 AGG genannter Grund zulasten eines Bewerbers/einer Bewerberin berücksichtigt werden. Der vorlegende Senat geht davon aus, dass diese Rechtsprechung zum „Bestandteil eines Motivbündels” für die sich benachteiligt sehende Partei im Schutzniveau mindestens gleich, im Ergebnis sogar stärker ist als die Vorgaben des Unionsrechts (zB EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociatia ACCEPT]; 5. Mai 1994 – C-421/92 – [Habermann-Beltermann] Rn. 14, Slg. 1994, I-1657; 8. November 1990 – C-177/88 – [Dekker] Rn. 10 und Rn. 17, Slg. 1990, I-3941).
C. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es auf die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2000/78/EG und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2006/54/EG an. Zu berücksichtigen sind weiter Art. 21 Abs. 1, Art. 23 und Art. 25 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Nach Auffassung des vorlegenden Senats setzt ein Anspruch des Klägers voraus, dass er sich bei der Beklagten mit dem Ziel einer Einstellung beworben hat. Nur dann kann er „Bewerber”/„Beschäftigter” im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG sein. Diese Anspruchsvoraussetzung sieht der Senat im vorliegenden Fall nicht als gegeben an. Zwar hat der Kläger bei der Beklagten auf die Ausschreibung der Trainee-Stellen hin eine Bewerbung eingereicht. Diese ist aber nach der Beurteilung des Senats aufgrund ihres Wortlautes und der Umstände des Einzelfalls nicht mit dem Zweck erfolgt, eine Beschäftigung bei der Beklagten als Trainee zu erreichen. Sie ist vielmehr so formuliert, dass die Beklagte den Kläger nicht als „Trainee” einstellen würde. Dies ergibt sich zum einen aus den Mitteilungen des Klägers bei der Bewerbung, etwa durch Betonung seiner vielfältigen Führungserfahrung. Zum anderen ergibt sich dies aus der Tatsache, dass der Kläger nach einer ersten Ablehnung eine Einladung zu einem Gespräch mit dem Personalleiter der Beklagten ausgeschlagen hat. Nach der Prüfung des Senats verfolgte der Kläger nicht das Ziel, von der Beklagten als Trainee beschäftigt zu werden. Vielmehr reichte er eine formale Bewerbung ein, um so als „Bewerber” im Sinne des AGG zu gelten und Ansprüche nach § 15 AGG erheben zu können. Auf der Grundlage des nationalen Zivilrechts handelt es sich um eine nicht ernstliche und daher unbeachtliche Willenserklärung.
Da der Kläger nach Auffassung des vorlegenden Senats die Voraussetzung des § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG nicht erfüllt, kann er sich nicht auf § 15 AGG berufen. Seine Klage kann deshalb nicht zum Erfolg führen.
Dies kann der Senat jedoch ohne eine Klärung des Unionsrechts nicht entscheiden. Dieses nennt nicht den „Bewerber”, sondern schützt den „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit”. Nicht geklärt ist, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) Richtlinie 2000/78/EG und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) Richtlinie 2006/54/EG ebenfalls voraussetzen, dass wirklich der Zugang zur Beschäftigung gesucht und eine Einstellung bei dem Arbeitgeber tatsächlich gewollt ist. Dies ist eine allein dem Gerichtshof obliegende Auslegungsfrage, zu der Rechtsprechung nicht vorliegt.
Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, wird für den vorlegenden Senat die zweite Vorlagefrage entscheidungserheblich.
D. Erörterung der Vorlagefragen
Zur Durchsetzung und Umsetzung des Unionsrechts zum Grundsatz der Gleichbehandlung und zum Schutz vor Diskriminierungen nehmen im deutschen Recht die Ansprüche auf Ersatz des materiellen Schadens (§ 15 Abs. 1 AGG) und auf Ersatz des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist (§ 15 Abs. 2 AGG) zusammen mit der Beweislastregelung des § 22 AGG eine zentrale Rolle ein. Mit diesen Bestimmungen folgt der deutsche Gesetzgeber den Vorgaben der einschlägigen Richtlinien (Richtlinie 2000/43/EG, Richtlinie 2000/78/EG und Richtlinie 2006/54/EG) und der Rechtsprechung des Gerichtshofs (ua. EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 24, 39 f., Slg. 1997, I-2195). Der besonders ausgestaltete Anspruch auf Entschädigung erfüllt die Forderungen des Unionsrechts „nach einer wirksamen und verschuldensunabhängig ausgestalteten Sanktion bei Verletzung des Benachteiligungsverbotes durch den Arbeitgeber” (Begründung zu § 15 Abs. 2 AGG, BT-Drs. 16/1780 S. 38). Auf der Grundlage von § 22 AGG müssen zur Umkehr der Beweislast (lediglich) Indizien dargelegt werden, die eine Diskriminierung vermuten lassen. Dabei darf im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keiner der verbotenen Anknüpfungsgründe (hier: Geschlecht, Alter) in irgendeiner Art und Weise Bestandteil des „Motivbündels” bei der Auswahlentscheidung sein.
Klagen nach § 15 Abs. 2 AGG haben die Besonderheit, dass ein Anspruch auf Entschädigung (mit der Begrenzung auf drei Monatsgehälter) bestehen kann, „wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre”. Danach ist es für den Entschädigungsanspruch ohne Bedeutung, wenn ein/e Bewerber/in wegen der besseren Qualifikation anderer Bewerber/innen auch bei benachteiligungsfreier Auswahl die zu besetzende Stelle nicht erhalten hätte. Auch mehrere Bewerber/innen können für dasselbe Bewerbungsverfahren eine Entschädigung geltend machen, § 61b Abs. 2 ArbGG. Wie im vorliegenden Fall werden Klagen zu § 15 Abs. 2 AGG nicht selten auf Formulierungen in Stellenausschreibungen gestützt.
Die im Verhältnis zum allgemeinen deutschen Zivilrecht außergewöhnliche Regelung in § 15 Abs. 2 AGG hat in der Literatur Anlass zu vielfältigen Debatten über Funktion und Auslegung gegeben. Damit hängt zusammen, dass das Konzept einer abschreckenden Wirkung (ua. EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociatia ACCEPT] Rn. 63) dem deutschen Schadensersatzrecht an sich fremd ist.
Der vorlegende Senat (ua. BAG 21. Juni 2012 – 8 AZR 364/11 – Rn. 57, BAGE 142, 158) hat vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Sanktionsregelung einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus der Richtlinie hergeleiteten Rechte gewährleisten muss, die Härte der Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen muss, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss, einen doppelten Sanktionszweck von § 15 Abs. 2 AGG angenommen: Die Bestimmung hat sowohl eine „spezialpräventive Funktion” (den Arbeitgeber zukünftig zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Pflichten nach dem AGG anzuhalten) als auch eine „generalpräventive Funktion” (Dritte von ähnlichen Verstößen abzuhalten).
Zur ersten Vorlagefrage: Die Erfüllung dieser Sanktionsfunktionen setzt voraus, dass der Status als „Bewerber” und daher als „Beschäftigter” im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG erreicht worden ist. Dies ist nach Auffassung des Senats davon abhängig, dass der/die Bewerber/in sich mit dem Ziel einer Einstellung beworben hat. Im Fall der vorliegenden Bewerbung des Klägers sieht der Senat diese Voraussetzung nicht als gegeben an. Dies kann allerdings nicht bereits daraus geschlossen werden, dass eine Person eine Vielzahl erfolgloser Bewerbungen versandt und – wie der Kläger – mehrere Entschädigungsprozesse geführt hat (ua. BAG 24. Januar 2013 – 8 AZR 429/11 – Rn. 63). Auch wenn der Kläger sich gerade auf solche Stellenausschreibungen beworben hat, deren Formulierung einen Anschein von Diskriminierung erwecken, steht dies entgegen der Auffassung der Beklagten einem Entschädigungsanspruch nicht entgegen. Der Senat sieht den Kläger jedoch nicht als „Bewerber”/„Beschäftigter” im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG an, da er eine Bewerbung eingereicht hat, deren Formulierung dem Anforderungsprofil der ausgeschriebenen Stelle vollkommen zuwiderläuft. Er hat damit die Ablehnung seiner Bewerbung provoziert. Der Kläger hat allein formal einen Bewerberstatus angestrebt. Es ging ihm darum, als abgelehnter Bewerber eine Entschädigungszahlung geltend zu machen. Dies fällt nach Auffassung des Senats nicht in den Schutzbereich des Grundsatzes der Gleichbehandlung und des Diskriminierungsschutzes.
Der Kläger führt demgegenüber im vorliegenden Verfahren aus, in Deutschland existiere kein wirksames Instrumentarium, um für abschreckend hohe Entschädigungszahlungen zu sorgen. Ein solches sei jedoch im Fall einer allein zivilrechtlichen Sanktionsregelung – wie in Deutschland – zur Erfüllung der unionsrechtlichen Vorgabe einer abschreckenden Wirkung erforderlich. Der vorlegende Senat ist jedoch aus den dargestellten Gründen der Auffassung, dass die unionsrechtlich erforderliche abschreckende Wirkung eine solche Auslegung von § 15 Abs. 2 AGG nicht erfordert.
Zur zweiten Vorlagefrage: Sowohl der vorlegende Senat als auch das Bundesverwaltungsgericht sind der Auffassung, dass ausnahmsweise nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs ein Anspruch, insbesondere wegen mangelnder Ernsthaftigkeit der Bewerbung, ausgeschlossen sein kann (ua. BAG 13. Oktober 2011 – 8 AZR 608/10 – Rn. 51 ff., AP AGG § 15 Nr. 9; BVerwG 3. März 2011 – 5 C 16.10 – Rn. 33, BVerwGE 139, 135). Mit Rücksicht auf die Gewährleistung eines tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutzes vor Benachteiligungen in Beschäftigung und Beruf ist an einen derartigen Anspruchsausschluss ein strenger Maßstab anzulegen. In solchen Fällen ist der Arbeitgeber für die fehlende subjektive Ernsthaftigkeit, dh. den Rechtsmissbrauch darlegungs- und beweisbelastet.
Auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist zu entnehmen, dass die nationalen Gerichte unter bestimmten Umständen im Einzelfall das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien in Rechnung stellen können, um ihnen gegebenenfalls die Berufung auf das einschlägige Unionsrecht zu verwehren; sie haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten (EuGH 22. Dezember 2010 – C-303/08 – [Bozkurt] Rn. 47, Slg. 2010, I-13445; 9. März 1999 – C-212/97 – [Centros] Rn. 25, Slg. 1999, I-1459; 2. Mai 1996 – C-206/94 – [Paletta] Rn. 25, Slg. 1996, I-2357).
Im vorliegenden Verfahren hat der Senat, falls die erste Vorlagefrage bejaht wird, die Frage eines eventuellen Rechtsmissbrauchs zu prüfen. Die Beklagte behauptet, in diesem Rechtsstreit ausreichend zu einer rechtsmissbräuchlichen Berufung des Klägers auf Diskriminierungsschutz vorgetragen und unter Beweis gestellt zu haben. Im Ergebnis geht sie davon aus, dass der Kläger – der sich selbst anwaltlich vertritt – mit einem hohen Professionalisierungsgrad vorgeht, um Kapital aus fehlerhaften Stellenangeboten zu schlagen.
Daher kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits – wenn die erste Vorlagefrage bejaht würde – darauf an, ob eine fehlende subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung noch unter „Rechtsgebrauch” im Sinne der unionsrechtlichen Vorgaben fällt. Wäre dies nicht der Fall, kommt die Einordnung einer solchen Haltung – ggf. bei Hinzutreten weiterer objektiv erfüllter Kriterien – als rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 242 BGB in Betracht.
Unterschriften
Hauck, Breinlinger, Winter, v. Schuckmann, Dr. Ronny Schimmer
Fundstellen
Haufe-Index 8258398 |
BB 2015, 1651 |
BB 2015, 1972 |
DB 2015, 15 |
DB 2015, 1908 |
DStR 2015, 12 |
EWiR 2015, 555 |
FA 2015, 320 |
NZA 2015, 1063 |
NZA 2015, 6 |
ZIP 2015, 53 |
ZTR 2015, 387 |
AP 2016 |
AuA 2015, 483 |
AuA 2016, 376 |
EzA-SD 2015, 4 |
EzA-SD 2015, 8 |
EzA 2015 |
MDR 2015, 11 |
NJ 2015, 9 |
RIW 2015, 694 |
ZMV 2015, 229 |
ArbRB 2015, 193 |
ArbRB 2015, 261 |
ArbR 2015, 303 |
GWR 2015, 348 |