Entscheidungsstichwort (Thema)
Tariflicher Sonderkündigungsschutz. Tarifvorrang
Leitsatz (redaktionell)
Wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG bzw. § 70 Abs. 1 S. 2 PersVG NW i.V.m. § 17 Nr 3 Manteltarifvertrag für das private Bankgewerbe und die öffentlichen Banken vom 12. November 1975 können Betriebs- oder Dienstvereinbarungen, die einen Sonderkündigungsschutz für langjährig Beschäftigte vorsehen, unwirksam sein.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3; BGB §§ 140, 145, 133, 157
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 19. April 2016 – 3 Sa 467/15 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
Der Kläger wurde im Juni 1991 von der Rechtsvorgängerin der Beklagten, einer Anstalt des öffentlichen Rechts, eingestellt und zuletzt im Bereich „Innere Dienste” eingesetzt. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmer.
Bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin existierte seit dem Jahr 1969 eine in mehrfach – letztmals am 18. Dezember 2009 – abgeschlossenen Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen enthaltene Bestimmung (fortan einheitlich als § 4 BV bezeichnet) folgenden Inhalts:
„Mitarbeiter/-innen, die mehr als 20 Jahre ununterbrochen in der Bank tätig gewesen sind, können nur aus einem in ihrer Person liegenden wichtigen Grund gekündigt werden.”
§ 17 Nr. 3 des Manteltarifvertrags für das private Bankgewerbe und die öffentlichen Banken (MTV) vom 12. November 1975 lautet:
„Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb mindestens 15 Jahre angehören, sind nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und bei Betriebsänderungen im Sinne des § 111 BetrVG kündbar.”
In den Schlussbestimmungen des MTV – zuletzt in dessen § 19 Nr. 3 – heißt es seit dem Jahr 1954:
„Günstigere Arbeitsbedingungen, auf die ein Arbeitnehmer durch Betriebsvereinbarung oder kraft eines besonderen Arbeitsvertrages Anspruch hat, bleiben bestehen.”
Nach § 4 Nr. 2 des Tarifvertrags zur Restrukturierung und Beschäftigungssicherung bei der W AG vom 3. November 2011 (HTV) hat die Beklagte vor jeder Entscheidung über den Einsatz externer Dienstleister zu prüfen, ob entsprechende Leistungen nicht intern erbracht werden können. Gemäß § 7 Nr. 2 des Interessenausgleichs zum „Rückbau” der Beklagten vom 12. Juli 2013 (IA) sind Beendigungskündigungen aus Anlass der Betriebsänderung möglichst zu vermeiden.
Nachdem sie den Bereich der Inneren Dienste einem externen Dienstleister übertragen, dem Kläger vergeblich ein Angebot auf Abschluss eines Aufhebungsvertrags unterbreitet und den Betriebsrat nach § 102 BetrVG angehört hatte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 20. Juni 2014 aus dringenden betrieblichen Gründen ordentlich zum 31. Januar 2015.
Mit der vorliegenden Klage hat sich der Kläger rechtzeitig gegen die Kündigung gewandt. Diese sei schon wegen Verstoßes gegen § 4 BV unwirksam. Der darin enthaltene Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen verstoße nicht gegen den Tarifvorrang. Er – der Kläger – habe auf die Gültigkeit der normativen Regelung vertrauen dürfen. Diese sei jedenfalls in eine inhaltsgleiche Gesamtzusage umzudeuten. Die Kündigung sei zudem nach § 7 Nr. 2 IA ausgeschlossen und sozial nicht gerechtfertigt. Die Beklagte habe den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört und keine Massenentlassungsanzeige erstattet.
Der Kläger hat – soweit für die Revision noch von Interesse – sinngemäß beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 20. Juni 2014 zum 31. Januar 2015 aufgelöst worden ist.
Die Vorinstanzen haben dem Klageabweisungsantrag der Beklagten entsprochen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger den Kündigungsschutzantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die Kündigungsschutzklage ist unbegründet. Die ordentliche Kündigung vom 20. Juni 2014 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgelöst.
I. Das Arbeitsverhältnis des Klägers konnte ordentlich gekündigt werden.
1. Zwischen den Parteien besteht kein Streit darüber, dass die streitgegenständliche Kündigung im Zuge einer Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG erklärt worden ist. Damit greift der in § 17 Nr. 3 MTV normierte Schutz vor ordentlichen Kündigungen nicht ein.
2. Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses – auch aufgrund einer Betriebsänderung – war nicht durch § 4 BV oder inhaltsgleiche vertragliche Vereinbarungen ausgeschlossen.
a) Der Senat hat in einem Parallelverfahren mit Urteil vom 26. Januar 2017 (– 2 AZR 405/16 –) entschieden, dass die vormals zwischen der Rechtsvorgängerin der Beklagten und dem Gesamtpersonalrat und sodann zwischen der Beklagten und ihrem Betriebsrat abgeschlossenen Vereinbarungen wegen Verstoßes gegen die sich aus § 70 Abs. 1 Satz 2 LPVG NRW bzw. § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ergebende Regelungssperre unwirksam waren. Eine inhaltsgleiche Gesamtzusage oder eine betriebliche Übung über die Beschränkung des ordentlichen Kündigungsrechts haben bei der Beklagten nicht bestanden. Ebenso stehen Grundsätze des Vertrauensschutzes der Wirksamkeit der Kündigung vom 20. Juni 2014 nicht entgegen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Begründung in der angeführten Senatsentscheidung (dort Rn. 15 bis 35 sowie Rn. 37) verwiesen.
b) Die vom Kläger in der Revisionsbegründung angeführten tatsächlichen Umstände rechtfertigen keine andere Beurteilung. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht einen Ausnahmefall verneint, der die Annahme rechtfertigen könne, die Beklagte habe sich unabhängig von der Wirksamkeit der zuvor abgeschlossenen kollektivrechtlichen Regelungen einzelvertraglich an den Kündigungsausschluss in § 4 BV binden wollen. Ausdrücklich hat sie eine solche Erklärung – auch nach dem Vorbringen des Klägers – nicht abgegeben. Dieser meint lediglich, der Intranetitteilung der Beklagten vom 11. Dezember 2012 und den von ihm behaupteten Aussagen ihres Vorstandsvorsitzenden auf einer Betriebsversammlung im Oktober 2014 eine solche konkludente Erklärung entnehmen zu können. Diese Äußerungen durften die Arbeitnehmer der Beklagten vor dem Hintergrund des Abwicklungsbeschlusses der Europäischen Kommission vom 20. Dezember 2011 nach dem für die Auslegung von Willenserklärungen maßgeblichen Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) aber nicht als einzelvertragliche Zusage eines gegenüber § 4 BV inhaltsgleichen Kündigungsausschlusses verstehen. Ein solcher Bestandsschutz hätte die Durchführung der Abwicklung verhindert oder zumindest nachhaltig in Frage gestellt.
II. Die Kündigung ist nach § 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG aus dringenden betrieblichen Gründen sozial gerechtfertigt.
1. Die Beklagte hat die unternehmerische Entscheidung getroffen, die Inneren Dienste an einen externen Dienstleister zu vergeben. Dieser zum Wegfall des Arbeitsplatzes des Klägers führende Entschluss stellt sich weder als rechtsmissbräuchlich dar noch war der Beklagten die Fremdvergabe nach § 4 Nr. 1 Abs. 2, Nr. 2 HTV verwehrt. Diese tarifliche Regelung verpflichtet die Beklagte, insbesondere für die Dauer der Maßnahmen zur Einleitung und Umsetzung der Restrukturierungen vor jeder Entscheidung zum Einsatz externer Dienstleister zu prüfen, ob die entsprechenden Leistungen nicht von internen Mitarbeitern erbracht werden können. Mehr als eine Prüfpflicht sieht sie nicht vor, insbesondere bezweckt sie keine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit, Arbeiten – letztlich doch – fremd zu vergeben. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Offenlegung der Kriterien, anhand derer die Prüfung durchgeführt worden ist und ihrer Beweggründe für die Übertragung der Tätigkeiten auf einen externen Dienstleister, sieht auch der HTV nicht vor.
2. Die Revision wendet sich nicht gegen die Annahme des Landesarbeitsgerichts, es habe keine Möglichkeit bestanden, den Kläger auf einem anderen Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 KSchG), und die Kündigung scheitere ebenso wenig an einer unzureichenden Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG). Die diesbezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichts lassen auch keinen Rechtsfehler erkennen.
III. Sonstige Unwirksamkeitsgründe bestehen nicht. Nach der von der Revision nicht in Zweifel gezogenen Annahme des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte den Betriebsrat ordnungsgemäß angehört (§ 102 Abs. 1 BetrVG) und bestand keine Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige (§ 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 KSchG).
IV. Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Koch, Rachor, Niemann, Grimberg, Brossardt
Fundstellen
Haufe-Index 10892118 |
StX 2017, 606 |