Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegezulage – gelähmte Patienten
Leitsatz (amtlich)
Die Pflegezulage für die Grund- und Behandlungspflege bei gelähmten Patienten steht auch Pflegepersonen zu, die zeitlich überwiegend Patienten pflegen, die aus therapeutischen Gründen durch Medikamente in den Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt werden.
Normenkette
BAT Anlage 1b Abschn. A; BAT Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 Buchst. d
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 23. Oktober 1998 – 13 Sa 2185/97 – wird zurückgewiesen.
2. Das beklagte Land hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger von Januar 1995 bis April 1997 eine monatliche Zulage für die Pflege gelähmter Patienten zustand.
Der Kläger ist als Krankenpfleger auf der operativen Intensivstation der Chirurgie des von dem beklagten Land betriebenen Klinikums der Universität beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) und die diesen ergänzenden und ersetzenden Tarifverträge Anwendung. Der Kläger ist in die Vergütungsgruppe Kr. VI Abschnitt A der Anlage 1b zum BAT eingruppiert. Die für ihn zutreffende Fallgruppe 1b verweist auf die Protokollerklärung Nr. 1 zur Vergütungsordnung für Angestellte im Pflegedienst (Anlage 1b zum BAT), die ua. lautet:
(1) Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr. I bis Kr. VII, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei
…
d) gelähmten oder an multipler Sklerose erkrankten Patienten,
…
ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 90,00 DM.
(1a) Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr. I bis Kr. VII, die zeitlich überwiegend in Einheiten für Intensivmedizin Patienten pflegen, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 90,00 DM.
Der Kläger erhält die monatliche Zulage von 90,00 DM für die Pflege von Patienten in Einheiten für Intensivmedizin.
Der Kläger führt zeitlich überwiegend die Grund- und Behandlungspflege an Patienten in der operativen Intensivstation – Abteilung Anaesthesiologie und operative Intensivmedizin – durch. Es handelt sich überwiegend um Patienten, die an unterschiedlichen Grundleiden erkrankt nach größeren operativen Eingriffen durch Verabreichung von Opioiden, Sedativa und Muskelrelaxanzien aus therapeutischen Zwecken in ein sogenanntes künstliches Koma versetzt werden.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, bei diesen Patienten handele es sich um „gelähmte Patienten” iS der Tarifnorm, so daß ihm für den Klagezeitraum die Zahlung einer weiteren monatlichen Zulage von 90,00 DM zustehe.
Der Kläger hat beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 2.700,00 DM brutto zuzüglich 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 22. April 1997 zu zahlen.
Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das beklagte Land hat den Anspruch verneint und die Auffassung vertreten, der Begriff der Lähmung beinhalte, daß dieser Zustand auf ein Grundleiden zurückzuführen und irreversibel sei. Davon sei eine vorübergehende Lähmung durch medikamentöse Behandlung zu unterscheiden. Mit der Zulage solle der Pflegeaufwand abgegolten werden, der bei dem psychischen Zustand von Patienten bestehe, die mit der Kenntnis einer schicksalsbedingten irreversiblen Lähmung konfrontiert seien. Diese Erschwernis sei bei Patienten mit vorübergehender Lähmung nicht in diesem Maße gegeben.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt das beklagte Land sein Klageabweisungsbegehren weiter. Der Kläger bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger übe zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege an gelähmten Patienten aus, wenn er durch Medikamente in den Zustand der Bewußtlosigkeit versetzte Patienten betreue. Bei ihnen fehle die Fähigkeit zur Bewegung der Muskeln. In einem solchen Fall seien nach Sinn und Zweck der Tarifvorschrift besondere Erschwernisse bei der Pflege abzugelten, unabhängig davon, ob die Bewegungsunfähigkeit endgültig oder als Folge einer Medikamentengabe nur vorübergehend sei und zu einem therapeutisch angezeigten Zeitpunkt auch wieder beendet werden könne. Aus der tariflichen Regelung ergebe sich auch keine Differenzierung zwischen den psychischen Belastungen des Pflegers bei der Pflege schicksalhaft Gelähmter gegenüber der Pflege vorübergehend bewußtloser Patienten.
Diese Ausführungen sind rechtlich nicht zu beanstanden.
II. Die Klage ist begründet.
1. Für den Kläger gelten kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundes-Angestelltentarifvertrag und die diesen ergänzenden und ändernden Tarifverträge unmittelbar und zwingend(§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Anwendbar ist deshalb Nr. 1 der Protokollerklärung zur Vergütungsordnung für Angestellte im Pflegedienst (Anlage 1 b zum BAT). Nach Nr. 1 Abs. 1 d der Protokollerklärung erhalten Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr. I bis Kr. VII, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei gelähmten Patienten ausüben, für die Dauer der Tätigkeit diese Zulage. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Der Kläger ist im Pflegedienst beschäftigt. Er gehört zum Pflegepersonal, das unter die Sonderregelung 2a BAT fällt, so daß Abschn. A der oben genannten Vergütungsordnung zur Anwendung kommt. Der Kläger ist in die Vergütungsgruppe Kr. VI eingruppiert. Der Kläger erfüllt unstreitig auch die weitere Voraussetzung der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 Buchst. d, indem er die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend an gelähmten Patienten ausübt. Die Auslegung der Protokollerklärung ergibt, daß mit dem Begriff „gelähmte Patienten” auch solche Patienten gemeint sind, deren Lähmung durch Opiate, Sedativa und Muskelrelaxanzien herbeigeführt ist.
2. Da die Tarifvertragsparteien den Begriff „gelähmte Patienten” nicht ausdrücklich bestimmt haben, ist für die Auslegung des Begriffs davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien ihn so verwendet haben, wie er von den beteiligten Berufskreisen verstanden wird.
a) Unter einer Lähmung wird die eingeschränkte Fähigkeit oder vollständige Unfähigkeit verstanden, einen Muskel oder eine Muskelgruppe zu bewegen. Es wird unterschieden zwischen einer funktionellen Lähmung durch motorische Funktionsausfälle ohne faßbaren organischen Befund, einer myogenen Lähmung als Folge von Muskelerkrankungen und neurogenen Lähmungen, die auf einem Funktionsausfall motorischer Nerven oder Nervenkerne beruhen. Letztere sind wieder zu unterscheiden in zentrale Lähmungen (sogenannte spastische Lähmungen), die aus dem Bereich des ersten motorischen Neurons (zwischen Großhirnrinde und Hirnnervenkernen) und peripheren (schlaffen) Lähmungen aus dem Bereich zwischen Großhirnrinde und Rückenmarksvorderhörnern herrühren. Von den zentralen Lähmungen sind die zerebralen Lähmungen zu unterschieden, die vom Gehirn ausgehen und spinale Lähmungen, die vom Rückenmark ausgehen. Weiterhin sind Lähmungen nach dem Grad ihrer Ausbreitung zu unterscheiden(Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl.; Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 258. Aufl.).
b) Nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts fällt der medikamentös verursachte Zustand der vom Kläger gepflegten Patienten in den Bereich der neurogenen Lähmung. Soweit diese durch Opiate, Sedativa etc. herbeigeführt wird, wirken diese auf das Zentralnervensystem. Durch Muskelrelaxanzien wird eine periphere Lähmung hergestellt und zwar durch Pharmaka, die eine hemmende Wirkung auf die neuromuskuläre Übertragung in den motorischen Endplatten ausüben(Pschyrembel aaO Stichworte „Opiate”, „Sedativa”, „Muskelrelaxanzien”). Der Kläger pflegt damit „gelähmte Patienten”.
3. Entgegen der Auffassung der Revision umfaßt der Begriff „gelähmte Patienten” sämtliche Formen der Lähmung unabhängig von deren Grund und Dauer. Der Wortlaut der Norm läßt keine einschränkende Differenzierung irgendeiner der oben genannten Lähmungsformen erkennen, für die keine Pflegezulage gewährt werden soll. Vielmehr besteht der Sinn und Zweck dieser Zulage gerade darin, Erschwernisse bei der Pflege gelähmter Patienten auszugleichen(vgl. BAG 10. Februar 1999 – 10 AZR 711/97 – AP BAT § 34 Nr. 5). Diese Erschwernisse bei der Pflege sind somit durch die Lähmung der Patienten bedingt, gleichgültig auf welchen Ursachen sie beruht und ob die Ursachen behebbar sind oder nicht, oder ob der Patient bei Bewußtsein ist oder nicht.
Nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts handelt es sich bei den vom Kläger zu pflegenden Patienten um solche, die durch völlige Bewußtlosigkeit gelähmt sind und deren Pflege daher besondere Anforderungen an den Kläger stellt. Damit steht ihm die Zulage für die Pflege gelähmter Patienten neben der Erschwerniszulage für die Pflege von Patienten in Einheiten der Intensivmedizin zu(vgl. BAG 26. Januar 1994 – 10 AZR 480/92 – ZTR 1994, 380).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Freitag zugleich für den wegen Krankheit an der Unterschrift verhinderten Richter Böck, Dr. Jobs, Burger, Paul
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 23.02.2000 durch Schneider, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BB 2000, 1358 |
ARST 2000, 234 |
FA 2000, 266 |
NZA 2001, 845 |
ZTR 2000, 374 |
AP, 0 |
PersR 2000, 433 |
PersR 2004, 132 |
PersV 2001, 89 |
RiA 2001, 59 |
AUR 2000, 278 |