Zusätzlich zu der Beurteilung, ob aktuell AU besteht, ist gutachtlich zu beurteilen, ob die medizinischen Voraussetzungen zu einer Aufforderung erfüllt sind, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und/oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. Die nachfolgenden Arbeits- und Bewertungsschritte sind bei der Erstellung von Gutachten zu berücksichtigen.
Dabei ist es Aufgabe der Krankenkasse in einer individuellen Ermessensausübung zu entscheiden, ob Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, tatsächlich aufgefordert werden oder nicht. Grundlage einer solchen Ermessensentscheidung muss ein ärztliches Gutachten sein, in dem die einzelnen Bewertungsschritte unabhängig voneinander vollzogen und dokumentiert werden.
Abbildung 3 – Workflow der Arbeits- und Bewertungsschritte bei Fragen zu § 51 Abs. 1 SGB V
a) Erläuterungen zu den Arbeits- und Bewertungsschritten bei Fragestellungen zu § 51 Abs. 1 SGB V
Legende zu 1): Ist die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert?
Diese Frage ist ausschließlich unter sozialmedizinischen Gesichtspunkten der wahrscheinlichen Prognose zu beantworten. Für die Bejahung einer erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit reicht die überwiegende Wahrscheinlichkeit (> 50 %) aus.
Diese Frage ist unabhängig von den Empfehlungen zur medizinischen oder beruflichen Rehabilitation zu beantworten.
In der Regel handelt es sich um AU-Fälle mit chronischem und/oder rezidivierendem Krankheitsverlauf und/oder akute Krankheitsereignisse mit dauerhaften Beeinträchtigungen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus
- der Struktur- und Funktionsdiagnostik,
- der Aktivitäts- und Partizipationsdiagnostik und
- den Feststellungen zum Leistungsvermögen
ist zu beurteilen, ob die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder bereits gemindert ist.
Eine "erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit" liegt vor, wenn durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen ohne die Leistungen zur Teilhabe innerhalb von 3 Jahren mit einer "Minderung der Erwerbsfähigkeit" zu rechnen ist.
Eine "Minderung der Erwerbsfähigkeit" liegt vor, wenn infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine erhebliche und länger andauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben eingetreten ist, wodurch die oder der Versicherte ihre oder seine bisherige oder zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer (länger als 6 Monate und über das Leistungsende hinausgehend) nicht mehr oder nicht mehr ohne wesentliche Einschränkungen ausüben kann (siehe auch 2.2.2.4 Aufforderung nach § 51 Abs. 1 SGB V, Auslegungsgrundsätze Punkt 2.5).
Anders als im Zusammenhang mit der teilweisen oder vollen Erwerbsminderung (Voraussetzung für einen Rentenanspruch nach § 43 SGB VI) ist bei der erheblichen Gefährdung und Minderung der Erwerbsfähigkeit gerade nicht auf den gesamten Arbeitsmarkt, sondern auf die individuelle Bezugstätigkeit abzustellen (BSG-Urteil vom 05.02.2009, AZ.: B 13 R 27/08 R).
Legende zu 2): Ergebnis: Medizinische Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 SGB V liegen nicht vor
Sofern die Erwerbsfähigkeit nicht erheblich gefährdet oder gemindert ist, ist dies entsprechend darzulegen.
Bei unauffälligem AU-Vorerkrankungsmuster liegt eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit bei vorübergehenden Krankheiten, bei denen üblicherweise nach Abschluss der Behandlung keine dauerhafte Leistungsbeeinträchtigung verbleibt, nicht vor.
An diesem Punkt ist auch darzulegen, dass und warum ggf. die Frage nach einer erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit aus medizinischer Sicht aktuell nicht zu beantworten ist. Ein fehlendes berufliches Anforderungsprofil erlaubt keine Aussage zu den medizinischen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 SGB V (es sei denn, es liegt ein komplett aufgehobenes Leistungsvermögen vor). Es sollen immer Hinweise gegeben werden, wann und mit welchen Informationen zu einem späteren Zeitpunkt eine Aussage zu den medizinischen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 SGB V zu erwarten ist.
Daneben kann auch eine Empfehlung zur stufenweisen Wiedereingliederung (§ 74 SGB V) oder ein Hinweis zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (§ 84 Abs. 2 SGB IX) abgegeben werden.
Legende zu 3): Ergebnis: Medizinische Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 SGB V liegen vor
Unter Beachtung der Definitionen aus Schritt 1) ist festzustellen, dass grundsätzlich entweder eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit oder bereits eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt.
Dies ist das zentrale Ergebnis zu den medizinischen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 SGB V. Bei der Bewertung der Erwerbsfähigkeit nach § 51 Abs. 1 SGB V muss die gutachtliche Stellungnahme folgende von der Sozialgerichtsbarkeit aufgestellten Merkmale (BSG-Urteil vom 07.08.1991, AZ.: 1/3 RK 26/90) enthalten:
- summarisch die erhobenen Diagnosen/Befunde nach ihrer sozialmedizinischen Bedeutung,
- die aus den krankheitsbedingten Schädigungen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten resul...