Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Leitsatz
Eine Tatsache i. S. v. § 173 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann. In diesem Sinne ist die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG genannte körperliche, geistige oder seelische Behinderung eine Tatsache.
Sachverhalt
Der 1977 geborene und in den Jahren 2012 und 2013 studierende Sohn der Kläger litt seit seiner Kindheit an Autismus, was aber lange Zeit nicht erkannt und diagnostiziert wurde. Nachdem die Krankheit als solche erkannt worden war, bewilligte die Familienkasse auf Antrag der Kläger rückwirkend ab dem Jahr 2011 Kindergeld.
Als das Finanzamt durch eine Mitteilung der Familienkasse von der Kindergeldfestsetzung erfuhr, änderte es die bereits bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide 2012 und 2013 nach § 173 AO zuungunsten der Kläger. Dabei machte es die bislang gewährte Steuerermäßigung nach § 33a Abs. 1 EStG für die Unterstützung des Sohnes rückgängig. Kinderfreibeträge berücksichtigte es nicht, weil die Günstigerprüfung ergab, dass das Kindergeld höher war.
Entscheidung
Das Finanzgericht hat dem Finanzamt Recht gegeben und entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerbescheide wegen neuer Tatsachen vorgelegen haben.
Eine Tatsache i. S. v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann. Es kann sich handeln um Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. In diesem Sinne ist die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG genannte körperliche, geistige oder seelische Behinderung eine Tatsache, nämlich ein Teilstück dieses gesetzlichen Tatbestands. Diese Tatsache - die Behinderung - war für das Finanzamt auch neu, denn hiervon erfuhr es erst durch die Mitteilung der Familienkasse.
Hinweis
Das Finanzgericht hat sich der Auffassung des Bundesfinanzhofs (Urteil v. 19.1.2017, III R 44/14, BFH/NV 2017 S. 735), wonach das Vorliegen einer Behinderung keine Tatsache, sondern eine Rechtsfrage ist, ausdrücklich nicht angeschlossen. In seinem Urteil zieht der Bundesfinanzhof aus der Überlegung, dass bei der Prüfung des Vorliegens einer Behinderung eine umfassende Würdigung aller Umstände vorzunehmen sei, die Schlussfolgerung, dass das Vorliegen der Behinderung eine Rechtsfrag ist. Demgegenüber ist das Finanzgericht der Meinung, dass Gesamtwürdigungen tatsächlicher Art zu den tatsächlichen Feststellungen und daher nicht zu den Rechtsfragen gehören.
Die wegen Divergenz zugelassene Revision wurde von den Klägern nicht eingelegt. Allerdings ist beim Bundesfinanzhof unter dem Az. XI R 8/17 ein Verfahren mit vergleichbarem Sachverhalt (späte Diagnose eines Gendefekts) anhängig, so dass der Bundesfinanzhof ggf. erneut Gelegenheit haben wird, zu der Streitfrage Stellung zu nehmen. Betroffene Steuerpflichtige sollten ggf. ihre Steuerfestsetzung in vergleichbaren Fällen durch Einspruchseinlegung offen halten.
Link zur Entscheidung
FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.06.2017, 3 K 3079/17