Leitsatz
1. § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 regelt seinem Wortlaut nach nur die Frage, ob eine wirksame Bekanntgabe (auch) an einen Bevollmächtigten erfolgen kann. Es bleibt offen, ob die Vorschrift deshalb dahin auszulegen ist, dass die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, die Rechtsbehelfsfrist auch dann in Lauf setzt, wenn ein Bevollmächtigter bestellt ist.
2. Eine Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den Bevollmächtigten des Steuerpflichtigen besteht nur dann, wenn für den Steuerpflichtigen als denjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist, ein Bevollmächtigter eindeutig und unmissverständlich gerade (auch) als Bekanntgabeadressat bestellt worden ist und sich dies unmittelbar aus der diesbezüglichen Erklärung des Steuerpflichtigen bzw. seines Bevollmächtigten ergibt.
Normenkette
AO 1977§ 80 Abs. 3 , § 122 Abs. 1
Sachverhalt
Das FA wollte den Kläger auf Haftung in Anspruch nehmen. Es gab ihm deshalb zunächst Gelegenheit, zu dieser Absicht Stellung zu nehmen. Der Kläger nahm dahin Stellung, dass er mit der Klärung der Ansprüche des FA einen Rechtsanwalt beauftragt habe; sollte das FA noch weitere Fragen haben, solle es sich mit dem RA in Verbindung setzen. Der alsbald vom FA – ohne Kontaktaufnahme mit dem Rechtsanwalt – erlassene Haftungsbescheid wurde dem Kläger selbst bekannt gegeben. Dieser legte verspätet Einspruch ein.
Entscheidung
Der BFH leitet aus § 122 Abs. 1 Satz 3 AO her, dass die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden habe, ob sie einen Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen selbst oder einem von diesem bestellten Bevollmächtigten bekannt geben will. Diese Ermessensent-scheidung sei nach § 5 AO überprüfbar. Das Ermessen könne insbesondere auf Grund der Umstände des Einzelfalls dahin ("auf null") geschrumpft sein, dass die Finanzbehörde den Verwaltungsakt dem Bevollmächtigten bekannt geben muss. (Dabei lässt der BFH wie erwähnt unentschieden, ob die Bekanntgabe unwirksam ist, wenn die Finanzbehörde gegen diese Verpflichtung verstößt.)
Eine solche Ermessensreduktion liege jedoch nur dann vor – d.h. die Finanzbehörde habe kein Wahlrecht, an den Beteiligten selbst bekannt zu geben, wenn der Steuerpflichtige ihr ausdrücklich mitgeteilt habe, dass er einen bestimmten Vertreter gerade auch zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtige. Hingegen führe es nicht zu einer Ermessensreduktion auf null, dass eine für das Verwaltungsverfahren im Allgemeinen erteilte oder gar eine ihrem Wortlaut oder den Umständen nach nicht eindeutige Vollmacht vorliege, aus der sich nur im Weg der Auslegung ergebe, dass der Steuerpflichtige eine Bekanntgabe von Verwaltungsakten an seinen Bevollmächtigten wünsche.
Die von dem Steuerpflichtigen im Streitfall gewählte Formulierung, die Finanzbehörde solle sich an den Bevollmächtigten mit weiteren Fragen wenden, dieser sei mit der Klärung der Ansprüche beauftragt, sah der BFH nicht als eine solche ausdrückliche Bevollmächtigung zur Empfangnahme von Verwaltungsakten an. Er wies die Klage gegen den Haftungsbescheid daher wegen Bestandskraft desselben ab.
Hinweis
1. In einem Steuerverwaltungsverfahren steht es jedem Beteiligten frei, einen Bevollmächtigten zu bestellen und sich durch ihn vertreten zu lassen (§ 80 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Finanzbehörde darf den Bevollmächtigten also grundsätzlich nicht zurückweisen; sie muss ihm alle Rechte einräumen, die auch dem Beteiligten zustehen; sie muss von ihm vorgenommene Verfahrenshandlungen gegen sich gelten lassen. Wird die Finanzbehörde von sich aus aktiv, so "soll" sie sich ebenfalls an den Bevollmächtigten, grundsätzlich aber nicht an den Beteiligten selbst wenden (§ 80 Abs. 3 Satz 1 AO). Denn dieser hat durch die Bestellung eines Bevollmächtigten gegenüber der Finanzbehörde gerade zum Ausdruck gebracht, dass er persönlich mit dem Verfahren in Ruhe gelassen sein will.
Ob diese Grundsätze uneingeschränkt auch für die Bekanntgabe eines Steuerbescheids gelten, ist nach Wortlaut und Systematik der AO nicht ganz klar. Denn diese schreibt im § 122 Abs. 1 Satz 1 AO vor, dass ein Verwaltungsakt dem Beteiligten selbst bekannt zu geben ist. Das scheint in Widerspruch zu § 80 Abs. 3 Satz 1 AO zu stehen.
Es ist auch nicht klar, was die AO damit meint, wenn sie in § 122 Abs. 3 Satz 3 hinzufügt, der Verwaltungsakt könne auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden.
2. Das BVerwG hat die entsprechenden Vorschriften des VwVfG mit sehr überzeugenden Gründen dahin ausgelegt, dass die Behörde die Wahl habe, ob sie dem Beteiligten selbst oder seinem Bevollmächtigten bekannt geben wolle; dass sie diese Wahl selbstverständlich ermessensgerecht handhaben muss, dass jedoch die Bekanntgabe an einen der Vorgenannten den Verwaltungsakt immer wirksam werden lässt, auch wenn die Auswahlentscheidung an sich ermessensfehlerhaft getroffen worden ist.
Der BFH hat offen gelassen, ob er dieser dogmatisch klaren Linie folgen könnte. Dies hätte zur Folge, dass sich ein Betei...