Leitsatz
1. § 129 AO ist nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht.
2. Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls und dabei insbesondere nach der Aktenlage beurteilt werden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Tatfrage; die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob das FG im Rahmen der Gesamtwürdigung von zutreffenden Kriterien ausgegangen ist, alle maßgeblichen Beweisanzeichen in seine Beurteilung einbezogen und dabei nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat.
Normenkette
§ 129 AO, § 17 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 EStG
Sachverhalt
Der Kläger erklärte zutreffend einen Gewinn gemäß § 17 EStG. Nach einem maschinellen Abbruchhinweis im Veranlagungsverfahren (personelle Ermittlung des steuerfreien Veräußerungsgewinns erforderlich) wurde anstelle des Betrags von 0 EUR (kein Freibetrag nach § 17 Abs. 3 EStG) der vom Kläger erklärte Gewinn eingetragen. So ergab sich keine Steuer. Vor der Freigabe durchlief der Fall die Qualitätssicherungsstelle und wurde vom Sachgebietsleiter abgezeichnet. Erst eine Außenprüfung bemerkte den Fehler. Das FA berichtigte nach § 129 AO. Das FG hielt dies für rechtmäßig (FG Köln, Urteil vom 14.6.2018, 15 K 271/16, Haufe-Index 12067394, EFG 2018, 1771).
Entscheidung
Der BFH hat das Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben. Es sei nicht festgestellt, wer die falsche Eintragung vorgenommen habe. Deshalb sei auch der Schluss nicht möglich, dass dabei ein Denkfehler ausgeschlossen werden könne. Dies gehe zulasten des FA. Eine Berichtigung nach § 129 AO war deshalb nicht möglich.
Bloße Post-it-Vermerke nicht tragfähig
In der Steuerakte befand sich an entsprechender Stelle ein Klebezettel (Post-it) mit der handschriftlichen Notiz des Veranlagungssachbearbeiters: "kein FB nach § 17 (3)". Der Zettel sollte offenbar beweisen, dass der Sachbearbeiter das Recht richtig angewandt und nur das Eingabeformular falsch ausgefüllt hatte. Das FG sprang über das Stöckchen und hielt es für ausgeschlossen, dass der Zettel nachträglich angebracht worden sein könnte. Den BFH hat dieser Zettel nicht beeindruckt. Er geht in seiner "Beweiswürdigung" darauf überhaupt nicht ein. Es wäre wohl zu einfach, wenn die Voraussetzungen von § 129 AO auf diesem Weg erwiesen werden könnten. Berater sollten in vergleichbaren Fällen deshalb nicht aufgeben, sondern (mit Nichtwissen) bestreiten, dass der Zettel im Zuge der Bearbeitung angebracht worden ist.
Hinweis
Die Bedeutung der Entscheidung ergibt sich nicht aus den Leitsätzen. Sie gehen beide über hinlänglich bekannte Aussagen nicht hinaus. Vordergründig hat der BFH lediglich die Sachverhaltswürdigung des FG korrigiert (die im Urteil zum Ausdruck gebrachte "Überzeugung" des FG hatte keine hinreichende tatsächliche Grundlage) und stattdessen (wegen vollständiger Ausermittlung des Falles) nach der objektiven Feststellungslast selbst entschieden. Das wäre nicht von allgemeiner Bedeutung.
1. Zwar hatte das FG die Revision zugelassen, um vom BFH allgemein klären zu lassen, ob eine Berichtigung nach § 129 AO bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil der Fall nach den internen Anweisungen der Finanzverwaltung von 3 Personen (Veranlagung, Qualitätssicherung, Sachgebietsleiter) geprüft werden sollte (6-Augen-Prinzip) und wohl auch geprüft worden ist. Das FG hatte dies verneint (hielt § 129 AO trotzdem für anwendbar) und dabei angenommen, bei der Veranlagung sei ein quasi "mechanischer" Fehler unterlaufen und die beiden nachfolgenden Stellen hätten diesen unbemerkt (und deshalb ebenfalls "mechanisch") übernommen.
2. Der BFH hat sich auf die allgemeine Frage nicht eingelassen. Sie stellt sich nicht, wenn schon der vom FG zugrunde gelegte tatsächliche Ablauf nicht als erwiesen angesehen werden kann (s.o.).
3. Bemerkenswert ist indes, dass der BFH die Tatsachenwürdigung des FG korrigiert und die Entscheidung mit Pressemitteilung (Nr. 7/2020) amtlich veröffentlicht hat.
Ob die vom BFH gezogenen Schlüsse wirklich zwingend sind, kann man hinterfragen. Umso schwerer wog offenbar das "Störgefühl" des Senats: Je mehr Personen einen Fall "prüfen" sollen, je größer also der Aufwand der Finanzverwaltung ist, um Fehler zu vermeiden, umso unwahrscheinlicher erscheint es, dass ein (zumal recht krasser) Fehler von all diesen fachkundigen und ständig geschulten Personen unbedacht (d.h. mechanisch) begangen oder übersehen wird.
Aber auch diese Aussage, die das FG noch in ähnlicher Form in sein Urteil geschrieben hat, ist dem BFH-Urteil nicht zu entnehmen. Immerhin – die Finanzverwaltung muss gewarnt sein: Unter ähnlichen Umständen (Prüffeld-Fälle, Intensivprüf-Fälle, Zeichnungsvorbehalt) wird sie in ...