Leitsatz
Eine die Berichtigung nach § 129 AO ermöglichende offenbare Unrichtigkeit kann auch vorliegen, wenn das FA eine in der Steuererklärung enthaltene offenbare Unrichtigkeit des Steuerpflichtigen als eigene übernimmt. Die Unrichtigkeit ist offenbar, wenn sie sich ohne Weiteres aus der Steuererklärung des Steuerpflichtigen, deren Anlagen sowie den in den Akten befindlichen Unterlagen für das betreffende Veranlagungsjahr ergibt.
Normenkette
§ 129 AO
Sachverhalt
Die Klägerin betrieb eine Handelsvermittlung und erzielte daraus einen Gewinn aus Gewerbebetrieb, den sie nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelte. Das FA forderte die Klägerin auf, ab 1999 zur Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 1 EStG überzugehen und eine Eröffnungsbilanz einzureichen. Im August 1999 reichte sie die Eröffnungsbilanz per 01.01.1999 ein, die einen "Gewinn von 168 115,59 DM" auswies. Der Gewinn beruhte vor allem auf Hinzurechnungen des Warenbestands.
In der ESt-Erklärung 1999 wies die Klägerin dagegen nur einen Gewinn von 93 220 DM aus, der ungefähr dem Gewinn entsprach, der sich aus dem Jahresabschluss zum 31.12.1999 ergeben hatte. Die erklärungsgemäß erfolgte Veranlagung für 1999 wurde bestandskräftig.
Im Rahmen einer Außenprüfung wurde festgestellt, dass der Übergangsgewinn im ESt-Bescheid 1999 nicht erfasst worden war. Das FA berichtigte daraufhin den Bescheid. Der dagegen gerichtete Einspruch, in dem die Klägerin geltend machte, dass kein Fall des § 129 AO vorliege, war ebenso erfolglos wie ihre Klage vor dem FG (FG Köln, Urteil vom 20.12.2006, 10 K 2627/04, Haufe-Index 2130889, EFG 2009, 628).
Entscheidung
Der BFH sah die Änderungsmöglichkeit des FA nach § 129 AO ebenfalls als gegeben an und wies die Revision als unbegründet zurück.
Hinweis
Nach § 129 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit – aber innerhalb der Verjährungsfrist – berichtigen. § 129 AO setzt grundsätzlich voraus, dass der Fehler in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist.
Problem des Streitfalls war, ob eine offenbare Unrichtigkeit bei der Übernahme von Angaben des Steuerpflichtigen als eigene gegeben ist, wenn der zuständige Sachbearbeiter die Unrichtigkeit ohne weitere Prüfung durch einen Blick in die Unterlagen, die sich in den das Streitjahr betreffenden Akten befanden, hätte erkennen können.
1. Es entspricht der gesicherten Rechtsprechung des BFH, dass grundsätzlich keine offenbare Unrichtigkeit vorliegt, wenn sie für den zuständigen Sachbearbeiter des FA nur erkennbar gewesen wäre, wenn er die Steuererklärung eines Vorjahrs bei der Veranlagung der Streitjahre zugezogen hätte (vgl. BFH, Urteil vom 14.02.1995, IX R 101/93, BFH/NV 1995, 1033). Soweit die Finanzbehörde auf Akten des Vorjahrs zurückgreifen muss, liegt eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderliche, vom Sachbearbeiter unterlassene Sachverhaltsermittlung vor, die kein mechanisches Versehen ist. In solchen Fällen hat das FA zwar möglicherweise seine Amtsermittlungspflicht verletzt; diese Pflichtverletzung ist aber nicht mit einer offenbaren Unrichtigkeit gleichzusetzen, sie schließt vielmehr i.d.R. eine offenbare Unrichtigkeit aus.
2. Für die Frage des Übersehens von unterjährig eingegangenen, jedoch den Veranlagungszeitraum betreffenden Unterlagen hatte der BFH bereits entschieden, eine Änderung nach § 129 AO sei auch dann möglich, wenn der Sachbearbeiter eine ihm zugegangene, für die Veranlagung des Streitjahrs einschlägige Kontrollmitteilung übersehen habe (BFH, Urteil vom 18.04.1986, VI R 4/83, BStBl II 1986, 541).Genauso wurde das Übersehen eines relevanten Grundlagenbescheids als offenbare Unrichtigkeit i.S.v. § 129 AO, d.h. als mechanisches Versehen gewertet (BFH, Urteil vom 16.07.2003, X R 37/99, BFH/NV 2003, 1622, BFH/PR 2004, 35).
3. Diese Überlegungen sind nach Auffassung des X. Senats auch auf den im Streitfall gegebenen Sachverhalt zu übertragen, in dem der Sachbearbeiter nicht von der Finanzverwaltung überlassene, sondern von dem Steuerpflichtigen unterjährig übersandte Unterlagen bei der Veranlagung versehentlich nicht auswertet, wenn sich aus ihnen ohne Weiteres erkennbar eine für die Besteuerung relevante Tatsache ergibt. Es könne keinen Unterschied machen, ob die für die Besteuerung relevanten Tatsachen den Unterlagen entnommen werden könnten, die sich bereits in den Akten des Veranlagungsjahrs befunden hätten, oder den Unterlagen, die der Steuererklärung unmittelbar beigefügt worden seien.
Diese Urteil führt zwar im Streitfall zu einer für den Steuerpflichtigen nachteiligen Änderung der Veranlagung; es kann sich aber auch positiv auswirken, wenn beispielsweise steuermindernde Informationen aus unterjährig übersandten Unterlagen vom FA versehentlich nicht ausgewertet werden.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 27.05.2009 – X R 47/08