Rz. 212
§ 272 Abs. 5 Satz 1 HGB – der Art. 9 Abs. 7 Buchst. c der Richtlinie 2013/34/EU umsetzt – schreibt vor, dass, soweit der auf eine Beteiligung entfallende Teil des Jahresüberschusses in der GuV die Beträge übersteigt, die als Dividende oder Gewinnanteil eingegangen sind oder auf deren Zahlung die KapG einen Anspruch hat, der Unterschiedsbetrag in eine Rücklage einzustellen ist, die nicht ausgeschüttet werden darf. Gemäß § 272 Abs. 5 Satz 2 HGB ist die Rücklage aufzulösen, soweit die KapG die Beträge vereinnahmt oder einen Anspruch auf ihre Zahlung erwirbt. § 272 Abs. 5 Satz 1 HGB begründet somit eine Ausschüttungssperre für Beteiligungserträge, die am Bilanzstichtag nicht als Dividende oder Gewinnanteil eingegangen (gezahlt worden) sind oder auf deren Zahlung am Bilanzstichtag kein Anspruch besteht.
Rz. 213
Dreh- und Angelpunkt der Diskussion der Vorschrift ist die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals "Anspruch". Wird der Begriff dahingehend ausgelegt, dass es sich um einen rechtlich begründeten Anspruch auf Zahlung handeln muss, wären die Konsequenzen dieser Vorschrift insb. für die phasengleiche Gewinnrealisierung erheblich. Zwar bliebe die phasengleiche Gewinnrealisierung weiterhin zulässig, jedoch stünden phasengleich realisierte Beteiligungserträge nicht mehr uneingeschränkt für ein "weiterschütten" zur Verfügung, da sie am Bilanzstichtag weder zugeflossen sind, noch ein rechtlich begründeter Anspruch auf Zahlung besteht. Letzterer entsteht erst mit dem Gewinnverwendungsbeschluss. Nimmt man das Vorliegen eines Anspruchs auf Zahlung i. S. d. § 272 Abs. 5 Satz 1 HGB dagegen bereits an, wenn dieser Anspruch zwar noch nicht besteht, aber so gut wie sicher entsteht, kommt dem späteren Gewinnverwendungsbeschluss lediglich wertaufhellende Bedeutung zu. In diesem Fall lägen die Voraussetzung des § 272 Abs. 5 Satz 1 HGB zur Bildung einer Ausschüttungssperre nicht vor und könnte uneingeschränkt "weitergeschüttet" werden. Der letzteren Interpretation hat sich auch der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages angeschlossen. Danach genüge es für die Entstehung eines Anspruchs i. S. d. § 272 Abs. 5 Satz 1 HGB, dass die KapG den Beteiligungsertrag so gut wie sicher vereinnahmen wird, auch wenn ein Beschluss des BeteiligungsUnt zur Gewinnverwendung noch aussteht; auf einen Anspruch im Rechtssinn kommt es nicht an.
Rz. 214
Folgt man der Auslegung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestags, läuft § 272 Abs. 5 Satz 1 HGB de facto in seinem Anwendungsbereich leer. Insb. für Vorabausschüttungen bei GmbHs kann die Vorschrift keine Anwendung finden, da der Zweck der Vorabausschüttung gerade darin besteht, Liquidität an das beteiligte Unt auszukehren. Hier dürfte also regelmäßig auch ein Zufluss liquider Mittel bei dem beteiligten Unt vorliegen.
Rz. 215
Die Auslegung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestags erscheint systematisch nicht schlüssig. Bilanziert werden üblicherweise Forderungen bzw. VG und nicht rechtliche Ansprüche. Richtig ist, dass eine Forderung nach einhelliger Auffassung bereits bilanziert werden kann, wenn der zugrunde liegende rechtliche Anspruch in seiner Entstehung so gut wie sicher ist. Fraglich ist, ob man diese für die Bilanzierung von Forderungen geltenden Überlegungen umgekehrt auf die Entstehung von rechtlichen Ansprüchen in dem Sinne übertragen kann, dass ein rechtlicher Anspruch bereits besteht, wenn er in seiner Entstehung so gut wie sicher ist. Schon aus systematischen Gründen ist eine solche Argumentation wenig überzeugend, denn der wirtschaftliche Anspruch ist in der handelsbilanziellen Terminologie die Forderung bzw. der VG und eben nicht der Anspruch. Trotz dieser Bedenken steht für den Rechtsanwender nichts entgegen, der Auslegung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestags zu folgen, die die bisherige Handhabung der phasengleichen Gewinnrealisierung unberührt lässt.