Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
Nach dem 30.06.2009 realisierte Verluste aus der Veräußerung von sog. Vollrisikozertifikaten, die nach dem 14.03.2007 angeschafft wurden, unterfallen § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Abs. 4, Abs. 6 EStG i.d.F. des Streitjahres.
Normenkette
§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Abs. 4 und Abs. 6, § 52a Abs. 10 Satz 8 EStG
Sachverhalt
Der Kläger erklärte in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2012 bei den Einkünften aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 EStG einen Verlust aus der Veräußerung von Zertifikaten i.H.v. 42.448 EUR. Die Zertifikate hatte er am 2.11.2007 bzw. am 2.1.2008 für insgesamt 51.000 EUR erworben. Nach dem Anlageprospekt hing der Wert der Zertifikate von der Entwicklung des Dow Jones EURO STOXX 50®- Index ab. Insgesamt waren fünf Beobachtungstage vorgesehen. Letzter Bewertungstag war der 30.11.2012. Im Extremfall konnte es zu einem Totalverlust kommen. Laut Prospekt waren keine laufenden Zahlungen (Vorschüsse o.Ä.) vorgesehen. Nach der Insolvenz des Emittenten übertrug der Kläger die Zertifikate auf der Grundlage eines Vergleichs gegen Zahlung von 10.200 EUR auf die Rechtsnachfolgerin des Emittenten.
Das FA lehnte die Berücksichtigung des Verlustes aus der Veräußerung der Zertifikate bei der Einkommensteuerfestsetzung ab. Die aufgrund des Vergleichs erfolgte Zahlung unterwarf es der Besteuerung gemäß § 20 Abs. 3 EStG n.F.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg (FG Münster, Urteil vom 13.5.2016, 7 K 3799/14 E, Haufe-Index 9486856, EFG 2016, 1170). Das FG sah die Zahlung aus dem Vergleich nicht als Entschädigung, sondern als Entgelt für die Rückveräußerung der Zertifikate an. Der Veräußerungsverlust war nach seiner Auffassung jedoch nicht steuerlich anzuerkennen.
Entscheidung
Der BFH hat der Revision und Klage des Klägers stattgegeben. Das FG hatte zwar zutreffend erkannt, dass es sich bei der aufgrund des Vergleichs geleisteten Zahlung an den Kläger nicht um eine Entschädigung i.S.d. § 20 Abs. 3 EStG n.F., sondern um ein Entgelt für die Veräußerung der Zertifikate handelte. Es hatte jedoch übersehen, dass der dem Kläger entstandene Verlust aus der Veräußerung der Zertifikate nach § 52a Abs. 10 Satz 8 EStG n.F. (jetzt: § 52 Abs. 28 Satz 17 EStG) gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Abs. 4, Abs. 6 EStG n.F. steuerlich anzuerkennen war.
Hinweis
1. Gegenstand der Entscheidung ist die steuerliche Berücksichtigung des Verlustes aus Vollrisikozertifikaten, die vor der Einführung der Abgeltungsteuer zum 1.1.2009 erworben wurden. Bei Vollrisikozertifikaten handelt es sich um hoch spekulative Kapitalanlagen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG i.d.F. nach Einführung der Abgeltungsteuer (n.F.), bei denen sowohl die Höhe des Entgelts als auch die Höhe der Rückzahlung von einem ungewissen Ereignis abhängen. Dies war vorliegend der Fall, da sowohl das Entgelt als auch die Rückzahlung des eingesetzten Kapitals allein von der Entwicklung des Basiswertes, dem Dow Jones EURO STOXX 50®- Index, abhängig waren. Dem Kläger war weder ein Mindestentgelt zugesagt worden noch eine der Höhe nach feststehende Mindestrückzahlung in Bezug auf das investierte Kapital.
2. Der Verlust des Klägers resultierte aus dem im Streitjahr 2012 abgeschlossenen Vergleich, nach dem der Kläger die Vollrisikozertifikate Zug um Zug gegen Zahlung von 10.200 EUR zurückzuübertragen hatte. Hieraus entstand ein Veräußerungsverlust i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG n.F. i.H.v. 42.448 EUR.
3. Wie der Fall zeigt, kann man sich – wie das FG – sehr schnell in den komplizierten Übergangsvorschriften zur Einführung der Abgeltungsteuer verlieren. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG n.F. ist vorliegend anwendbar, obwohl der Kläger die Zertifikate bereits im November 2007 bzw. Januar 2008, also vor Einführung der Abgeltungsteuer, erworben hatte. Dies folgt aus § 52a Abs. 10 Satz 8 EStG n.F. (jetzt: § 52 Abs. 28 Satz 17 EStG). Nach dieser Vorschrift ist § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 i.V.m. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG n.F. anwendbar, wenn die Kapitalforderung zwar nicht die Voraussetzungen von § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG in der am 31.12.2008 anzuwendenden Fassung (a.F.), aber die Voraussetzungen von § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG n.F. erfüllt und nicht vor dem 15.3.2007 angeschafft wurde. Diese Voraussetzungen waren vorliegend erfüllt. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG a.F. erfasste Kapitalforderungen nur, wenn entweder die Kapitalrückzahlung oder die Zahlung eines Entgelts dem Grunde und der Höhe nach ungewiss war. Danach sind Vollrisikozertifikate ohne Kapitalrückzahlungsgarantie, bei denen sowohl der Zinssatz als auch die Höhe der Kapitalrückzahlung an einen Index gekoppelt sind, keine Kapitalforderungen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG a.F.
4. Der in § 52a Abs. 10 Satz 8 i.V.m. § 52a Abs. 11 Satz 4 EStG n.F. enthaltene Vorbehalt zur letztmaligen Anwendung von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG a.F. schließt die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG n.F. im Streitfall nicht aus, da die Veräußerung der Zertifikate außerhalb der Jahresfrist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG a.F. erfolgte.
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