Problematischer sind die Fälle, in denen nicht nur das FA seine Ermittlungspflicht verletzt, sondern auch der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist. Hier kommt es entscheidend darauf an, ob der Verstoß des FA gegen seine Ermittlungspflicht den Verstoß des Steuerpflichtigen gegen seine Mitwirkungspflicht deutlich überwiegt. Um dies entscheiden zu können, sind die beiderseitigen Pflichtverletzungen gegenüber zu stellen, zu würdigen und zu gewichten. Diese Würdigung obliegt zunächst dem FA und im gerichtlichen Verfahren dem FG als Tatsacheninstanz. Die vom FG vorgenommene tatrichterliche Überzeugungsbildung ist nur insoweit revisibel, als Verstöße gegen die Verfahrensordnung, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze vorliegen (BFH v. 10.11.2009 – VI B 54/09, BFH/NV 2010, 602).
Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das FA es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären bzw. umfassend darzustellen, trifft i.d.R. den Steuerpflichtigen die Verantwortung, d.h. der Ermittlungsfehler des FA steht einer Bescheidänderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht entgegen (BFH v. 6.2.2013 – X B 164/12, BFH/NV 2013, 694). Beachten Sie: Dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn der Verstoß des FA die Mitwirkungsverletzung durch den Steuerpflichtigen deutlich überwiegen würde (BFH v. 8.11.2011 – X B 55/11, BFH/NV 2012, 169).
Beispiel:
Gibt z.B. der Steuerpflichtige aufgrund der unklaren Bescheinigung eines Versorgungswerks in seiner Einkommensteuererklärung Altersvorsorgeaufwendungen in doppelter Höhe an, so ist das FA nach Kenntnisnahme von der tatsächlichen Höhe an einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auch dann nicht gehindert, wenn ihm seinerseits eine Verletzung von Ermittlungspflichten zur Last fällt, weil es die Angaben in der Steuererklärung beim Steuerpflichtigen hätte hinterfragen müssen. Hier wiegt die Verletzung der Ermittlungspflicht des FA nicht schwerer als die Verletzung der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen, der allein über die volle Sachverhaltskenntnis verfügte (BFH v. 14.5.2013 – X B 33/13, BStBl. II 2013, 997 = AO-StB 2013, 204).
Beraterhinweis Der BFH stellte heraus, dass ein Steuerpflichtiger seine verfahrensrechtliche Position im Anwendungsbereich der Grundsätze von Treu und Glauben nicht dadurch verbessern kann, dass er seine Steuererklärung durch einen Steuerberater fertigen lässt und dieser vorbereitende Tätigkeiten seinem Büropersonal überträgt.