Entscheidungsstichwort (Thema)
Gegenvorstellung; unterbliebene EuGH-Vorlage
Leitsatz (NV)
1. Eine Aussetzung eines Verfahrens der Gegenvorstellung gemäß § 74 FGO im Hinblick auf das beim Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anhängige Verfahren GmS-OGB 3/07 kann unterbleiben, wenn der gerügte Verstoß nicht vorliegt.
2. Für die Entscheidung, ob ein Verfahren dem EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG vorgelegt wird, steht dem Gericht ein Beurteilungsrahmen zu. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist erst dann verletzt, wenn dieser Beurteilungsrahmen überschritten ist.
Normenkette
EG Art. 234 Abs. 3; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO § 74
Tatbestand
I. Die Klägerin, Revisionsklägerin und Antragstellerin (Klägerin) macht im Wege einer Gegenvorstellung geltend, dass der Senatsbeschluss vom 18. September 2007 I R 15/05 ihr Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) verletzt habe; das Verfahren hätte ausgesetzt und ein Vorlagebeschluss an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234 Abs. 3 des Vertrages von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG), sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. C-340, 1) hätte getroffen werden müssen.
Entscheidungsgründe
II. Die Gegenvorstellung hat keinen Erfolg.
1. Zur Beseitigung schweren Verfahrensunrechts kann in mit förmlichen Rechtsmitteln nicht anfechtbaren Entscheidungen die Anhörungsrüge nach § 133a der Finanzgerichtsordnung (FGO), sofern eine Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt wird, und --nach bisheriger Rechtsprechung-- im Übrigen eine Gegenvorstellung erhoben werden (z.B. Senatsbeschluss vom 29. September 2005 I B 70/05, BFH/NV 2006, 110; Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13. Oktober 2005 IV S 10/05, BFHE 211, 13, BStBl II 2006, 76). Eine Gegenvorstellung sollte statthaft sein, wenn ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) gerügt oder geltend gemacht wurde, die Entscheidung sei mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar (BFH-Beschlüsse vom 21. April 1997 V R 22, 23/93, BFH/NV 1998, 32, m.w.N., und in BFHE 211, 13, BStBl II 2006, 76). Ob eine Gegenvorstellung angesichts des verfassungsrechtlichen Gebots der Rechtsmittelklarheit (noch) statthaft ist, ist zur Zeit Gegenstand eines Verfahrens beim Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB 3/07 auf Vorlagebeschluss des BFH vom 26. September 2007 V S 10/07, BStBl II 2008, 60).
2. Der erkennende Senat sieht von einer Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO über die hier erhobene Gegenvorstellung bis zum Abschluss des Verfahrens GmS-OGB 3/07 ab, weil der von der Klägerin gerügte Verstoß nicht vorliegt. Der angegriffene Beschluss des Senats verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht.
a) Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beurteilt die Zuständigkeitsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Teil des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots. Damit ist nicht jeder einem Gericht unterlaufende, die Zuständigkeit des Gerichts berührende Verfahrensfehler vom BVerfG zu korrigieren. Vielmehr beanstandet das Gericht die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 3. November 1992 1 BvR 137/92, BVerfGE 87, 282; vom 14. Juli 2006 2 BvR 264/06, Der Konzern 2006, 684).
b) Eine Gerichtsentscheidung, in der eine mögliche Vorlage an den EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG abgelehnt wird, verstößt nur dann gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn das Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen überschritten hat. Eine willkürliche Verkennung der Vorlagepflicht kommt demnach in Betracht, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht trotz der --seiner Auffassung nach bestehenden-- Entscheidungserheblichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Frage eine Vorlage überhaupt nicht in Erwägung zieht, wenn es bewusst von der EuGH-Rechtsprechung abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt und schließlich, wenn es den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsspielraum in Fällen überschritten hat, in denen eine einschlägige EuGH-Rechtsprechung noch nicht oder noch nicht erschöpfend vorliegt oder ihre Fortentwicklung nicht ganz fernliegend ist. Der Beurteilungsspielraum ist dabei überschritten, wenn Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechtes gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfG-Beschlüsse vom 9. November 1987 2 BvR 808/82, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 1456; vom 3. Oktober 1989 2 BvR 440/87, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1990, 446). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Der Senat hat in seinem Beschluss vom 18. September 2007 I R 15/05 unter III.4. der Gründe die Frage, ob der Verzinsungsausschluss gemeinschaftsrechtskonform ist, ausführlich abgehandelt und erkannt, dass auch unter Berücksichtigung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes die Klägerin innerstaatlich eine den Nachteil ausgleichende Erstattung bzw. Entschädigung erhalten kann. Insoweit hat er die Gemeinschaftsrechtslage als eindeutig angesehen und von einer EuGH-Vorlage abgesehen. Dass die Klägerin diese Auffassung nicht teilt, kann allein nicht ausreichen, den Beurteilungsspielraum des Gerichts als überschritten anzusehen.
3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, da hierfür kein Gebührentatbestand vorgesehen ist.
Fundstellen