Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorläufige Steuerfestsetzung: Reichweite des Vorläufigkeitsvermerks
Leitsatz (NV)
Vorläufigkeitsvermerke i.S. von § 165 AO beziehen sich nur auf mögliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen, nicht aber auf sämtliche noch offenen Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts (Anschluss an BFH-Urteil vom 31. Mai 2006 X R 9/05, BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858).
Normenkette
AO §§ 165, 361 Abs. 2; FGO § 69 Abs. 2, § 115 Abs. 2; EStG § 10 Abs. 3
Verfahrensgang
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen. Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Klägern) geltend gemachten Zulassungsgründe i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegen nicht vor.
1. Eine Rechtsfrage hat grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn ihre Beantwortung durch den Bundesfinanzhof (BFH) aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse liegt. Es muss sich um eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage handeln (vgl. z.B. Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 27 ff., m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH). Die Rechtsfrage ist u.a. dann nicht klärungsbedürftig, wenn auf den Sachverhalt durch die Rechtsprechung geklärte Rechtsgrundsätze anzuwenden sind (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 29. Januar 1997 V B 33/85, BFHE 148, 560, BStBl II 1987, 316) und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute höchstrichterliche Prüfung und Entscheidung dieser Frage geboten erscheinen lassen (BFH-Beschluss vom 4. Mai 1999 IX B 38/99, BFHE 188, 395, BStBl II 1999, 587, m.w.N.).
Entgegen der von den Klägern vertretenen Auffassung kommt den von ihnen aufgeworfenen Rechtsfragen, "ob der Maßstab für die Annahme von (steuerlichen) Zweifeln hinsichtlich der Auslegung eines Steuerverwaltungsakts --hier: im Rahmen der Auslegung der Nebenbestimmung des § 165 der Abgabenordnung (AO)-- derselbe ist wie der der §§ 361 Abs. 2 Satz 2 AO, 69 Abs. 2 Satz 2 FGO bzw. ob im Steuerrecht ein einheitlicher Zweifelsmaßstab gilt oder normspezifische unterschiedliche Zweifelsmaßstäbe anzuwenden sind", keine grundsätzliche Bedeutung zu. Durch die Rechtsprechung des BFH ist geklärt, dass sich die Vorläufigkeit nicht auf die Frage erstreckt, ob der Kürzung des Vorwegabzugs (auch) nicht sozialversicherungspflichtiger Arbeitslohn zugrunde zu legen ist, wenn das Finanzamt die Einkommensteuer "im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren" vorläufig hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) festsetzt (BFH-Urteile vom 26. Februar 2004 XI R 50/03, BFH/NV 2004, 1064, und vom 31. Mai 2006 X R 9/05, BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858). Vorläufigkeitsvermerke i.S. von § 165 Abs. 1 AO beziehen sich nur auf mögliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen, nicht aber auf sämtliche noch offenen Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts. Nach dieser Rechtsprechung wird die Verfahrensweise der Finanzverwaltung im Streitfall von § 165 AO nicht erfasst, da die Frage des Sonderausgabenabzugs mit oder ohne Kürzung des Vorwegabzugs ausschließlich die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts betrifft. Da die von den Klägern aufgeworfene Frage, wann bei der Auslegung der Nebenbestimmung des § 165 AO Zweifel mit der Folge anzunehmen sind, dass "im Zweifel" das den Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen ist, keinen neuen Gesichtspunkt darstellt, der eine neue höchstrichterliche Überprüfung rechtfertigen könnte, kann die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht zugelassen werden.
2. Gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert.
a) Dies trifft insbesondere dann zu, wenn das Finanzgericht (FG) mit einem das angegriffene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene FG-Urteil und die (vorgeblichen) Divergenzentscheidungen müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 48 und 53, m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH). Keine Abweichung in diesem Sinne liegt vor, wenn das FG erkennbar von den in der Rechtsprechung des BFH entwickelten und auch den (mutmaßlichen) Divergenzentscheidungen zugrunde liegenden Rechtsgrundsätzen ausgeht, diese aber (möglicherweise) fehlerhaft auf die Besonderheiten des Streitfalls angewendet hat (vgl. die Nachweise aus der Rechtsprechung des BFH bei Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 55). Denn nicht schon die Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils im Einzelfall, sondern nur die Abweichung im Grundsätzlichen rechtfertigt prinzipiell die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO. Bloße Subsumtionsfehler sind hingegen im Zulassungsverfahren grundsätzlich unbeachtlich (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 55, m.w.N.).
b) Nach diesen Maßstäben kommt im vorliegenden Fall eine Zulassung der Revision wegen Divergenz nicht in Betracht. Entgegen der von den Klägern vertretenen Auffassung vermag der beschließende Senat nicht zu erkennen, dass das FG mit dem angefochtenen Urteil vom Senatsurteil in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858 abgewichen sein soll. Vielmehr hat das FG im Anschluss an die BFH-Urteile in BFH/NV 2004, 1064 und in BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858 erkannt, dass § 165 Abs. 1 AO eine vorläufige Festsetzung hinsichtlich ungeklärter Rechtsfragen des einfachen Rechts nicht vorsehe. Dass die Steuerfestsetzung nicht hinsichtlich jedweder im Rahmen des § 10 Abs. 3 EStG streitig gewordenen Rechtsfrage vorläufig sei, verdeutliche auch der anschließende Zusatz, wonach die Vorläufigkeitserklärung nur aus verfahrenstechnischen Gründen erfolge und nicht dahin zu verstehen sei, dass die Regelung als verfassungswidrig angesehen werde. Damit werde objektiv hinreichend deutlich, dass Grund für die vorläufige Steuerfestsetzung die bestrittene Verfassungsmäßigkeit der zitierten Norm sei. Die hier streitige Rechtsfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen der von einem Gesellschafter-Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung bezogene Arbeitslohn zur Kürzung des Vorwegabzugs führe, betreffe jedoch die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts.
Im Übrigen war Gegenstand des BFH-Beschlusses vom 21. Dezember 2000 XI B 75/99 (BFH/NV 2001, 773), gegen den sich die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 587/01 gerichtet hat, die Rechtsfrage, ob auch bei zusammenveranlagten Ehegatten eine individuelle Kürzung des Vorwegabzugs dergestalt möglich ist, dass jedenfalls demjenigen Ehegatten, der nicht durch vorwegabzugschädliche Arbeitgeberleistungen i.S. von § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG a.F. begünstigt worden ist, noch ein eigener Vorwegabzug von 6 000 DM (später: 3 068 €) verbleibt. Zu Recht hat das FG darauf abgestellt, dass die Streitfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen der von einem Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH bezogene Arbeitslohn zur Kürzung des Vorwegabzugs führt, weder Gegenstand des BFH-Beschlusses in BFH/NV 2001, 773 noch der zugrunde liegenden Entscheidung des FG Düsseldorf vom 21. April 1999 9 K 5414/96 E (nicht veröffentlicht) war. Schließlich wurde die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 587/01 gegen den BFH-Beschluss in BFH/NV 2001, 773 gemäß §§ 93a, 93b des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.
Fundstellen
Haufe-Index 2025168 |
BFH/NV 2008, 1645 |