Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens bei der Entscheidungsfindung
Leitsatz (NV)
Das FG entscheidet nicht unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens, wenn es für die Abgrenzung, ob ein geänderter Einkommensteuerbescheid eine wiederholende Verfügung oder ein Zweitbescheid ist, allein den unveränderten Inhalt der Besteuerungsgrundlagen und nicht die aktenkundigen Begleitumstände des Bescheiderlasses in seine Entscheidungsfindung einbezieht.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 05.02.2020; Aktenzeichen 1 K 1981/15) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 05.02.2020 - 1 K 1981/15 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Rheinland-Pfalz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist begründet.
Rz. 2
Das Finanzgericht (FG) hat nicht gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden. Die Vorentscheidung wird gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
Rz. 3
1. Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff. Insbesondere verpflichtet § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO das Gericht, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16.07.2019 - X B 114/18, BFH/NV 2019, 1127, Rz 21; vom 05.06.2020 - VIII B 38/19, BFH/NV 2020, 1267, Rz 3).
Rz. 4
2. Das FG hat den aktenkundigen und festgestellten Umstand, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) die Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids 2009 vom 17.12.2014 unter Hinweis auf eine inhaltliche Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen am gleichen Tag per Telefax widerrufen und erst nach inhaltlicher Prüfung der Einwände der Körperschaftsteuerstelle am 19.12.2014 einen (auch hinsichtlich der Einkünfte aus Kapitalvermögen) unveränderten Bescheid für das Streitjahr 2009 erlassen hat, bei seiner Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt. Hierin liegt ein Verstoß gegen die Vorgaben aus § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO, der zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung des Streitfalls an das FG führt (§ 116 Abs. 6 FGO).
Rz. 5
a) Das FG hat den Einspruch der Kläger vom 21.01.2015 gegen den aus seiner Sicht am 17.12.2014 wirksam bekanntgegebenen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2009 als unzulässig angesehen, weil dieser zu spät erhoben worden sei.
Rz. 6
Den zeitlich nachfolgend erlassenen Einkommensteuerbescheid für 2009 vom 19.12.2014 hat das FG hierbei als wirksam bekanntgegeben beurteilt, weil er das FA verlassen habe, bevor die Anzeige des damaligen Prozessbevollmächtigten über das Erlöschen der Empfangsvollmacht zugegangen sei. Diesen Bescheid hat das FG unter Bezugnahme auf die Begründung der Einspruchsentscheidung (§ 105 Abs. 5 FGO) wegen der unveränderten Besteuerungsgrundlagen als wiederholende Verfügung betrachtet, gegen die kein Einspruch möglich gewesen sei.
Rz. 7
b) Die Kläger rügen zurecht, dass das FG bei seiner Entscheidungsfindung den aktenkundigen Umstand hätte berücksichtigen müssen, dass das FA im Telefax vom 17.12.2014 gegenüber den Klägern eine inhaltliche Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen angekündigt und nach Vornahme dieser Prüfung seine Auffassung durch den Erlass des Einkommensteuerbescheids 2009 vom 19.12.2014 bestätigt hat und angesichts der Unklarheiten, wann der vorherige Bescheid am 17.12.2014 zugestellt und die Widerrufserklärung den Klägern zugegangen war, damit auch Zweifel an der wirksamen Bekanntgabe des zuvor erlassenen Bescheids beseitigen wollte. Denn dem FA ging es angesichts des mit Ablauf des 31.12.2014 drohenden Eintritts der Festsetzungsverjährung auch darum, einen wirksamen Änderungsbescheid mit den weiteren Kapitaleinkünften des Klägers rechtzeitig abzusenden.
Rz. 8
c) Auf diesem Mangel kann die Entscheidung des FG auch beruhen. Wäre der Bescheid vom 19.12.2014 keine wiederholende Verfügung, sondern ein wirksamer sog. Zweitbescheid (s. zur Abgrenzung Seer in Tipke/Kruse, § 118 AO Rz 17; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 AO Rz 170), hätte er als Änderungsbescheid den ursprünglichen Bescheid vom 17.12.2014 in seinen Regelungsgehalt aufgenommen und dessen Wirkung suspendiert; letzterer könnte keine Wirkung mehr entfalten (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 25.10.1972 - GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231, unter 3.). Anzufechten mit dem Einspruch wäre nur der Zweitbescheid vom 19.12.2014, der am 22.12.2014 zugestellt wurde und gegen den die Kläger rechtzeitig Einspruch erhoben haben. Abgrenzungskriterium zwischen einer wiederholenden Verfügung und einem Zweitbescheid ist u.a., ob das FA auf neues Vorbringen eingeht und ob es erneut über die Sache entscheidet (Seer in Tipke/Kruse, § 118 AO Rz 17). Danach ist nicht ausgeschlossen, dass das FG bei Einbeziehung der eingangs genannten aktenkundigen Umstände und einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass es sich bei dem Bescheid vom 19.12.2014 um einen rechtzeitig angefochtenen Zweitbescheid handelte. Soweit das FG an anderer Stelle der Entscheidung darlegt, es könne offen bleiben, ob der Bescheid vom 19.12.2014 eine wiederholende Verfügung sei, spricht dies nicht gegen die Erheblichkeit des Verfahrensmangels. Denn diese Begründung trägt die Würdigung des FG, der Einspruch sei nach Ablauf der Einspruchsfrist erhoben worden, nicht allein. Das FG ist auch in diesem Begründungsstrang davon ausgegangen, dass nur der am 17.12.2014 zugestellte Einkommensteuerbescheid 2009 angefochten werden konnte, ohne sich mit den unter 2.b genannten Umständen auseinanderzusetzen.
Rz. 9
d) Der Senat hält es für zweckmäßig, die Vorentscheidung aufzuheben und den Streitfall zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
Rz. 10
3. Der Senat sieht gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO von einer Darstellung des Tatbestands und weiteren Begründung ab.
Rz. 11
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 14437479 |
BFH/NV 2021, 641 |
NJW 2021, 10 |
ZAP 2021, 641 |