Leitsatz (amtlich)
Erstrebt der Steuerpflichtige die Aussetzung der Vollziehung einer Verfügung des FA, so hat er die Wahl, ob er gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung der OFD Klage beim FG erheben oder den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung unmittelbar beim FG als Gericht der Hauptsache stellen will. Hat er eines der beiden gerichtlichen Verfahren bei demselben Gericht gewählt, so ist während des Schwebens dieses Verfahrens die Einleitung des anderen gerichtlichen Verfahrens bei demselben Gericht unzulässig.
Normenkette
FGO § 40 Abs. 1, § 69 Abs. 2-3, § 102; AO § 230 Abs. 1, § 242 Abs. 2; AO a.F. § 237 Abs. 1-2, § 251
Tatbestand
Der II. Senat des BFH beschloß am 20. Juni 1967, BStBl III 1967, 471 , die Entscheidung des Großen Senats des BFH über die Rechtsfrage herbeizuführen, ob die Aussetzung der Vollziehung durch das Gericht der Hauptsache -- FG -- gemäß § 69 Abs. 3 FGO vom 6. Oktober 1965 (BGBl I 1965, 1477) zulässig ist, wenn noch eine Klage (Berufung) wegen Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 2 FGO (§ 251 Satz 1 AO a. F., § 242 Abs. 2 AO unter Berücksichtigung der Änderungen durch die FGO und das Gesetz zur Änderung der AO und anderer Gesetze vom 15. September 1965, BGBl I 1965, 1356) anhängig ist. In dem diesem Beschluß zugrunde liegenden Sachverhalt lehnte das FA in einer Grunderwerbsteuersache (Hauptsache) die Aussetzung der Vollziehung ab. Gegen die das FA bestätigende Beschwerdeentscheidung der OFD vom 21. Mai 1965 legten die Stpfl. gemäß § 251 Satz 1 AO a. F. Berufung beim FG ein, das über die Berufung noch nicht entschied. Nach dem 1. Januar 1966 beantragten die Stpfl. beim FG als Gericht der Hauptsache nach § 69 Abs. 3 FGO die Aussetzung der Vollziehung. Das FG gab dem Antrag statt. Das FA legte gegen diesen Beschluß des FG Beschwerde ein und stützte sie u. a. darauf, daß das FG nach dem Beschluß des I. Senats des BFH I S 8/66 vom 19. April 1966 (BFH 86, 56, BStBl III 1966, 358 ) den Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO als unzulässig hätte verwerfen müssen, weil die zur Klage gewordene Berufung gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD bei demselben FG anhängig gewesen sei.
Der II. Senat des BFH hielt den bezeichneten Antrag für zulässig, sah sich indessen an einer sachlichen Entscheidung durch den Beschluß des I. Senats, der auf Anfrage an der in diesem Beschluß vertretenen Auffassung festhielt, gehindert. Da somit der II. Senat von der Entscheidung des I. Senats abweichen will, sind die Voraussetzungen für eine Entscheidung des Großen Senats gegeben (§ 11 Abs. 3 FGO).
Entscheidungsgründe
1. Allgemeine gesetzliche Vorschriften: Läßt man zunächst bei der Untersuchung der Rechtslage die nur für die Übergangszeit mögliche Besonderheit des dem II. Senat zur Entscheidung vorliegenden Falls, daß nämlich die Berufung gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD vor dem Inkrafttreten der FGO eingelegt und über sie noch nicht entschieden wurde, außer Betracht, so sind die Aussetzung der Vollziehung und die dafür in Betracht kommenden Rechtsmittel nach den folgenden Vorschriften der FGO und der AO zu beurteilen. Das FA kann von Amts wegen oder auf Anregung des Steuerpflichtigen die Aussetzung der Vollziehung einer angegriffenen Verfügung (im folgenden als Steuerbescheid bezeichnet) anordnen (§ 242 AO). Lehnt das FA das ab, so steht dem Steuerpflichtigen, wenn man zunächst vom Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften ausgeht, der allgemeine außergerichtliche Rechtsbehelf der Beschwerde nach § 230 AO an die OFD zu, weil es sich bei dem Bescheid um eine andere als die in § 229 AO aufgeführten Verfügungen handelt. Gegen die Beschwerdeentscheidung ist dann die Klage an das FG gegeben (Urteilsverfahren, § 40 Abs. 1 FGO). Der Steuerpflichtige kann nun weiter, nachdem er den Steuerbescheid angefochten hat, die Aussetzung der Vollziehung nicht nur bei dem dazu berechtigten FA (§ 69 Abs. 2 FGO) zu erreichen versuchen, sondern den Antrag auch unmittelbar beim Gericht der Hauptsache (§ 69 Abs. 3 FGO) stellen. Gegen den auf einen solchen Antrag hin ergehenden Beschluß des FG steht jedem der Beteiligten die Beschwerde nach § 128 FGO an den BFH zu (Beschlußverfahren). Da nun weder die FGO noch die AO darüber eine Vorschrift enthält, ob das sogenannte Urteilsverfahren und das sogenannte Beschlußverfahren nebeneinander ohne jede Einschränkung zulässig sind, entsteht die den Gegenstand der Anrufung des Großen Senats bildende Zweifelsfrage, ob sich aus dem System der AO und der FGO oder aus allgemeinen materiellen oder prozessualen Grundsätzen eine Beschränkung der beiden Rechtswege ergibt.
2. Zur Auslegung des § 80 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO): Die beiden möglichen extremen Auffassungen über die Konkurrenz des Urteils- und des Beschlußverfahrens werden vom II. Senat einerseits und von denjenigen andererseits vertreten, die die Auffassung der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungspraxis zur Auslegung des § 80 VwGO auch bei der Auslegung des § 69 FGO entscheidend sein lassen wollen. Der II. Senat möchte offenbar das Urteilsverfahren und das Beschwerdeverfahren ohne Beschränkung nebeneinander zulassen, während die Oberverwaltungsgerichte jedenfalls bei der Auslegung der der Vorschrift des § 80 VwGO vorhergehenden, ähnlich lautenden Vorschriften annehmen, daß das Klageverfahren durch das weitergehende Beschlußverfahren (lex specialis) ausgeschlossen sei. Da der Gesetzgeber die Vorschriften der FGO im Rahmen des Möglichen den entsprechenden Vorschriften der VwGO anpassen wollte (vgl. amtliche Begründung zum Entwurf der FGO vom 2. August 1963, Bundestags-Drucksache IV/1446 S. 35 ff. und besonders der schriftliche Bericht des Rechtsausschusses, Bundestags-Drucksache IV/3523 zu § 65 -- später § 69 -- FGO) und die Wortlaute des § 69 FGO und des § 80 VwGO jedenfalls weitgehend und in wesentlichen Punkten übereinstimmen, gewinnt die Auslegung des § 80 VwGO durch die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verwaltungsbehörden eine auch für die Auslegung des § 69 FGO wichtige Bedeutung.
Eine unterschiedliche Wortfassung der Vorschriften des § 80 VwGO und des § 69 FGO ergibt sich zunächst zwangsläufig daraus, daß Rechtsstreitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten über öffentliche Abgaben und Kosten an Umfang und Bedeutung gegenüber Rechtsstreitigkeiten, bei denen es nicht um die Zahlung von Geldbeträgen geht, zurücktreten, und daß bei dem zuletzt bezeichneten Verfahren die Vollziehung grundsätzlich durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs ausgesetzt ist und die Widerspruchsbehörde deshalb, um trotzdem wie bei öffentlichen Abgaben vollziehen zu können, die Vollziehung besonders anordnen muß. Im übrigen aber stimmen jedenfalls, soweit es sich um öffentliche Abgaben handelt, die Vorschriften der beiden Gesetze weitgehend überein (§ 80 Abs. 5 VwGO, § 69 Abs. 3 FGO). Die bezeichneten Vorschriften sind fast wörtlich aus § 51 Abs. 3 der Militärregierungsverordnung Nr. 165 -- Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Britischen Zone (MilRegVO), Amtsblatt der Militärregierung Deutschland Brit. Kontrollgebiet 1947 S. 799, übernommen worden, wonach auf Antrag eines Beteiligten das Verwaltungsgericht die Vollziehung aussetzen konnte. Im übrigen kannte auch diese Verordnung in § 25 ebenso wie die VwGO und die FGO die allgemeine Klage gegen anfechtbare Verwaltungsakte, wozu nach dem Wortlaut der bezeichneten Vorschrift auch die Anordnung der Vollziehung nach § 51 Abs. 1 MilRegVO oder die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung bei Streitigkeiten über öffentliche Abgaben und Kosten nach § 51 Abs. 2 MilRegVO gehörten.
Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht -- OVG -- (Urteil Bf III 3/54 vom 16. Februar 1955, Monatsschrift für Deutsches Recht 1955, 698) und das OVG Münster (Beschluß IV B 652/58 vom 9. Juli 1958, Die Öffentliche Verwaltung 1959 S. 634 -- DÖV 1959, 634 -- vertraten zur Auslegung des § 51 MilRegVO übereinstimmend die Auffassung, die Vorschrift des § 51 Abs. 1 Satz 2 MilRegVO habe die Vollziehungsanordnung als Rechtsinstitut besonderer Art geschaffen und diese Anordnung unterliege nicht den für die Anfechtung von Verwaltungsakten allgemein gültigen Verfahrensvorschriften (Einspruch und anschließend Klage). Vielmehr gewähre die MilRegVO als einziges zulässiges Rechtsmittel gegen die Vollziehungsanordnung nur den Aussetzungsantrag nach § 51 Abs. 3 MilRegVO. Daß die Anfechtung einer Vollziehungsanordnung nach § 23 MilRegVO unzulässig sei, ergebe sich aus der Spezialität der die Vollziehungsanordnung regelnden Vorschriften. Das sei von den Verwaltungsgerichten in ständiger Übung und Rechtsprechung anerkannt worden. Nach diesen Entscheidungen der OVGe kann davon ausgegangen werden, daß die Behörden der allgemeinen Verwaltung diese Auffassung auch zur Auslegung des § 80 VwGO vertreten und daraus die Folgerung ziehen, daß bei einem Abgabebescheid gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung jedenfalls nicht die allgemeine Anfechtungsklage zugelassen wird. Der erkennende Senat hat sich trotzdem aus folgenden Gründen nicht dazu entschließen können, das Urteilsverfahren als durch die Vorschrift des § 69 Abs. 3 FGO (lex specialis) ganz allgemein als ausgeschlossen anzusehen.
3. Die Vorschrift des § 69 Abs. 3 FGO keine lex specialis: Es ist zwar richtig, daß die Wortlaute der Vorschriften des § 80 Abs. 5 VwGO und des § 69 Abs. 3 FGO weitgehend übereinstimmen und daß bei der Auslegung beider Vorschriften möglichst nach gleichen Grundsätzen verfahren werden sollte. Trotzdem darf, soweit es sich um die verfahrensmäßige Bedeutung des § 69 Abs. 3 FGO handelt, nicht außer Betracht gelassen werden, daß hier anders als in § 80 Abs. 5 VwGO das Wort "auch" eingefügt ist und es demnach heißt: "Auf Antrag kann auch das Gericht der Hauptsache ..." Nach der Entstehungsgeschichte dieses abweichenden Wortlautes muß angenommen werden, daß dieses Wort "auch" zum Ausdruck bringen sollte, daß das aus dem Rahmen der sonstigen allgemeinen Vorschriften herausfallende gerichtliche Verfahren in § 69 Abs. 3 FGO neben die sonstigen den gerichtlichen Rechtsschutz des Steuerpflichtigen sicherstellenden allgemeinen Vorschriften treten und sie jedenfalls nicht ausschließen sollte. Denn in der Begründung der Kabinettsvorlage zum Entwurf der FGO heißt es auf Seite 51 zu § 65 Abs. 3 FGO (später § 69 FGO), daß diese Neuerung vorgeschlagen werde, weil es nicht ausreichend erscheine, den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen im Fall einer abweichenden Entscheidung der Verwaltungsbehörde nach § 65 Abs. 2 FGO auf die Möglichkeit der Anfechtung der Abweisung (also Erhebung der Klage) zu beschränken. Da dieses so begründete Wort "auch" in allen späteren vorgeschlagenen Fassungen stehen blieb, ohne daß seine Bedeutung noch einmal erörtert wurde, muß davon ausgegangen werden, daß auch der Gesetzgeber diesem Wort diese Bedeutung beilegen wollte. Bei dieser Sachlage erscheint es nicht vertretbar, den vom Gesetzgeber gewollten und auch zum Ausdruck gebrachten, sehr weitgehenden Rechtsschutz in der Weise einzuschränken, daß allgemein schon die Möglichkeit des jederzeitigen Antrags nach § 69 Abs. 3 FGO entweder den außergerichtlichen Rechtsbehelf der Beschwerde oder jedenfalls die Anfechtungsklage gegen die Beschwerdeentscheidung ausschließe. Der erkennende Senat ist allerdings der Auffassung, daß auch § 69 Abs. 3 FGO als einziger Weg für die Erreichung einer Aussetzung der Vollziehung allen berechtigten Belangen der Steuerpflichtigen ausreichend Rechnung getragen hätte und daß de lege ferenda gegen die von den Verwaltungsgerichten im Wege der Gesetzesauslegung erreichte Beschränkung des Rechtswegs unter dem Gesichtspunkt eines ausreichenden Rechtsschutzes der Steuerpflichtigen keine Einwendungen erhoben werden könnten. Das gilt um so mehr, als die grundsätzliche Zulässigkeit zweier gerichtlicher Verfahren, die sachlich auf das gleiche Ziel gerichtet sind, zu zahlreichen Zweifelsfragen und damit zu einer auch für die Steuerpflichtigen unerfreulichen Rechtsunsicherheit führt. Diese Gesichtspunkte reichen aber für das Gericht nicht aus, eine mit dem Willen des Gesetzgebers offenbar nicht zu vereinbarende, wenn auch rechtsstaatlich ausreichende und wesentlich einfachere Auslegung zu billigen.
Es darf dabei auch nicht außer Betracht gelassen werden, daß der Steuerpflichtige in besonders gelagerten Fällen möglicherweise das ihm vom Gesetzgeber gewährte Urteilsverfahren dem Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO vorzieht. Denn auch dann, wenn man davon ausgeht, daß beide Verfahren auf dasselbe Ziel, nämlich die Aussetzung der Vollziehung zu einem bestimmten Zeitpunkt und mit übereinstimmender Begründung zu erreichen, gerichtet sind, so erhält der Steuerpflichtige im Urteilsverfahren eine Entscheidung des Senats des FG oder im Wege der Revision des vollbesetzten Senats des BFH, die als Urteil in Rechtskraft erwächst, damit vom FA zu beachten ist und auch vom Gericht nicht mehr geändert werden kann, sofern nicht ein neues Verfahren auf Grund einer Änderung des Sachverhalts durchgeführt wird. Demgegenüber darf über einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO auch der Vorsitzende des Gerichts der Hauptsache allein entscheiden, wenn auch dann gegen seine Entscheidung die Entscheidung des Gerichts herbeigeführt werden kann. Dieses Gericht ist beim BFH anders als beim Urteilsverfahren nur mit drei Richtern besetzt. Vor allem aber können die auf einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO ergehenden Beschlüsse des Gerichts jederzeit von Amts wegen oder auf Anregung eines der Beteiligten zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, so daß der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, auf den ein Steuerpflichtiger möglicherweise auch im Aussetzungsverfahren Gewicht legt, im Beschlußverfahren gegenüber dem Urteilsverfahren weitgehend an Bedeutung verliert. Daß damit Interessen des Steuerpflichtigen beachtet werden, deren Berücksichtigung ihm unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Richtigkeit und der Vereinfachung des Verfahrens vom Gesetzgeber versagt werden könnte, reicht für das Gericht nicht aus, ihm diesen Rechtsschutz nicht zu gewähren. Man kommt somit zu dem Ergebnis, daß die Möglichkeit des Antrags nach § 69 Abs. 3 FGO den allgemeinen Rechtsweg des Urteilsverfahrens nicht ausschließt.
4. Urteils- und Beschlußverfahren: Damit ist indessen noch nicht entschieden, ob der Steuerpflichtige das Urteilsverfahren und das Beschlußverfahren nebeneinander und bis zu einer Entscheidung in jedem dieser Verfahren durchführen darf. Die vom II. Senat für die Zweigleisigkeit des Verfahrens angeführten Gründe reichen nicht aus, um dem Steuerpflichtigen das Recht zu geben, vom FG in zwei auf das gleiche Ziel gerichteten Verfahren voneinander unabhängige oder sich gegenseitig jeweils in der Hauptsache erledigende Entscheidungen zu verlangen. Es ist zwar richtig, daß nach dem Wortlaut der oben bezeichneten Vorschriften der FGO und der AO das eine Verfahren das andere nicht ausdrücklich ausschließt. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob man bei der oben behandelten, wenn auch nicht sehr erheblichen Verschiedenheit der beiden Verfahren von einer doppelten Rechtshängigkeit (§ 66, § 155 FGO, § 263 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) sprechen kann. Denn in jedem Fall sind die beiden vom Gesetzgeber zugelassenen Verfahren nicht so verschieden, daß ein Rechtsschutzbedürfnis der Steuerpflichtigen für die Durchführung beider Verfahren anerkannt werden kann. Soweit sich der II. Senat für die Unterschiedlichkeit beider Verfahren besonders darauf beruft, daß im Urteilsverfahren nur das Verwaltungsermessen der OFD, abgestellt auf den Zeitpunkt ihrer Beschwerdeentscheidung, im Rahmen des § 102 FGO nachgeprüft werde, kann dieser Auffassung bei Zugrundelegung der Vorschriften der FGO nicht zugestimmt werden.
Die Vorschrift des § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO und die gleichlautende Vorschrift des § 242 Abs. 2 Satz 1 AO erklären lediglich, daß die Verwaltung die Vollziehung aussetzen kann und, wenn die Voraussetzungen des Satzes 2, besonders also ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes, vorliegen, aussetzen "soll". Trotz dieser unklaren Fassung, die sich fast gleichlautend auch in § 80 VwGO findet, muß in Übereinstimmung mit dem OVG Münster III B 433/60 vom 29. Juli 1960 (DÖV 1960, 914) davon ausgegangen werden, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO die Verwaltung oder das angerufene FG als Gericht der Hauptsache, von Ausnahmen in Sonderfällen (vgl. BFH-Beschluß VII B 12/66 vom 28. Juni 1967, BFH 89, 82, BStBl III 1967, 513 ) abgesehen, die Vollziehung aussetzen müssen, und, wenn diese Vorausetzungen nicht vorliegen, es bei der vom Gesetzgeber gewollten Vollstreckbarkeit des Steuerbescheides verbleibt, also nicht ausgesetzt werden darf. Es fehlt, worauf das OVG Münster mit Recht hinweist, an einer einleuchtenden und sachlichen Rechtfertigung dafür, daß sich die Aussetzungsbefugnis der Verwaltung und des FG unterscheiden und für die Verwaltung ein größerer Spielraum für die Aussetzungsbefugnis oder Aussetzungspflicht gegeben sei als für das nach § 69 Abs. 3 FGO angerufene FG.
Somit hängt die Entscheidung sowohl für die Verwaltung als auch für das FG als Gericht der Hauptsache in aller Regel allein davon ab, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder die Vollziehung eine unbillige Härte im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO zur Folge hat. Die in den meisten Fällen notwendig werdende Prüfung der Rechtslage in einem summarischen Verfahren führt nach Auffassung des Großen Senats nicht zu einer Ermessensentscheidung; sie erfordert vielmehr die Einordnung des vorliegenden Sachverhaltes unter steuerliche Rechtsnormen, und zwar soweit, bis das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsauffassung entweder bejaht oder ausgeschlossen werden kann. Es ist allerdings richtig, daß, wie man auch den Begriff der unbilligen Härte in § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO auslegen und abgrenzen mag, bei der Entscheidung über das Vorliegen einer solchen Härte ein weiterer Spielraum gegeben ist als bei der Begründung oder Verneinung ernstlicher Zweifel. Trotzdem nimmt der Große Senat an, daß es sich auch insoweit um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, und zwar besonders deshalb, weil für die über die Aussetzung der Vollziehung befindende Entscheidung der Verwaltung die Frage, ob sich eine Beschränkung der richterlichen Nachprüfung aus § 102 FGO ergibt, nur einheitlich beantwortet werden kann, zumal der Steuerpflichtige im allgemeinen seinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sowohl auf ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts als auch auf das Vorliegen einer unbilligen Härte bei der Vollziehung stützt. Die Einschränkung des Anwendungsgebiets des § 102 FGO zugunsten der Ausdehnung des unbestimmten Rechtsbegriffs ist um so mehr gerechtfertigt, als sie zu einem umfangreicheren gerichtlichen Rechtsschutz des Steuerpflichtigen führt. Daraus ergibt sich, daß das FG auch im Urteilsverfahren nach dem Stande im Zeitpunkt seiner Entscheidung zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung vorliegen. In diesem entscheidenden Punkt unterscheidet scheidet sich also das Urteilsverfahren nicht vom Beschlußverfahren. Die Unterschiede beider auf dasselbe Ziel gerichteten Verfahren vor dem FG bestehen also im wesentlichen nur noch in der jederzeitigen Abänderbarkeit der Entscheidung nach § 69 Abs. 3 FGO zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen gegenüber der Rechtskraftwirkung eines über die Aussetzung der Vollziehung ergangenen Urteils.
5. Wahlrecht: Der Große Senat zieht aus der weitgehenden Übereinstimmung der beiden auf dasselbe Ziel gerichteten Verfahren einerseits und der hinsichtlich der Rechtssicherheit und der Bestandswirkung bestehenden Unterschiedlichkeit andererseits die Schlußfolgerung, daß der Steuerpflichtige nicht beide Verfahren vor dem FG durchführen darf. Er muß sich für die Durchführung eines der beiden gerichtlichen Verfahren entscheiden und darf dann, solange dieses gerichtliche Verfahren vor dem FG schwebt, nicht ein weiteres gerichtliches Verfahren einleiten. Erhebt der Steuerpflichtige gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD beim FG Klage, so muß er alles, was er zur Begründung dieses Antrags auf Aussetzung der Vollziehung vorzubringen hat, in diesem Verfahren vortragen und er ist nicht berechtigt, durch einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO über denselben Streitpunkt ein weiteres gerichtliches Verfahren vor demselben Gericht anhängig zu machen, solange er seine Klage nicht zurücknimmt. Entscheidet er sich für einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO, so kann er gegen eine nach Stellung dieses Antrags ergehende Beschwerdeentscheidung der OFD keine Klage erheben, solange er den Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO nicht zurücknimmt. Hat er das Urteilsverfahren durchgeführt, so ist für einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO solange kein Raum mehr, als sich der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt nicht geändert hat oder sich aus dem Inhalt des Urteils ergibt, daß nunmehr der Weg für eine weitere gerichtliche Entscheidung frei sein muß. Der Große Senat schließt sich also im Ergebnis weitgehend der Auffassung an, die der I. Senat des BFH im Beschluß I S 8/66 und der V. Senat im Beschluß V S 8/66 vom 16. Dezember 1966 (BFH 87, 340, BStBl III 1967, 144 ) vertreten haben.
6. Übergangszeit: Der dem Anrufungsbeschluß des II. Senats zugrunde liegende Sachverhalt weist die nur für eine begrenzte Übergangszeit mögliche Besonderheit auf, daß das Urteilsverfahren durch eine Berufung (§ 237 Abs. 2 AO a. F.) gegen die vor dem 1. Januar 1966 ergangene Beschwerdeentscheidung der OFD (§ 237 Abs. 1, § 251 AO a. F.) beim FG eingeleitet wurde, bei der es sich um eine nur im beschränkten Umfang nachprüfbare Ermessensentscheidung handelte. Die für die Ausübung dieses Ermessens von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Auslegung des § 251 AO a. F. fanden ihren Niederschlag in § 242 AO und in § 69 FGO mit der Maßgabe, daß, wie bereits ausgeführt wurde, es sich nunmehr nicht mehr um die Nachprüfung des Verwaltungsermessens (§ 102 FGO), sondern um die Auslegung von mehr oder weniger unbestimmten Rechtsbegriffen handelt. Der Große Senat hat deshalb keine Bedenken anzunehmen, daß die Berufung nach dem 1. Januar 1966 eine Klage wurde, über deren Berechtigung das FG nunmehr nach der Vorschrift des § 69 FGO zu entscheiden hat. Das bedeutet, daß sich diese Entscheidung nicht in dem beschränkten Rahmen des § 102 FGO halten darf, das FG vielmehr zu prüfen hat, ob die durch die FGO geschaffenen Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung im Zeitpunkt seines Urteils vorliegen. Daraus folgt, daß die oben bezeichnete Besonderheit des beim II. Senat vorliegenden Sachverhalts auf das Ergebnis keinen Einfluß hat und der von dem Steuerpflichtigen gestellte Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO unzulässig war, weil zur Zeit seiner Einreichung das Urteilsverfahren vor demselben FG schwebte.
Fundstellen
Haufe-Index 425895 |
BStBl II 1968, 199 |
BFHE 90, 461 |