Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO
Leitsatz (NV)
1. Das FG kann gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO anordnen, daß ein Bevollmächtigter für einen Verfahrensbeteiligten bestellt werden muß, der nicht bereit oder in der Lage ist, in seinem Streitfall sachgemäß vorzutragen und sachdienliche Anträge zu stellen.
2. Die Anordnung setzt grundsätzlich voraus, daß der Vorsitzende bzw. der von ihm bestimmte Berichterstatter im Rahmen der Hinweispflicht nach § 76 Abs. 2 FGO zunächst versucht hat, den Beteiligten zu einem prozeßförderlichen Verhalten zu veranlassen.
3. Das FG darf auf Maßnahmen nach § 76 Abs. 2 FGO nur dann verzichten, wenn der Beteiligte von vornherein offensichtlich nicht bereit und imstande ist, sachdienlichen Hinweisen des Gerichts nachzukommen.
Normenkette
FGO § 62 Abs. 1 S. 2, § 76 Abs. 2
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), ein Finanzbeamter im Ruhestand, erhob mit Schriftsatz vom 20. Februar 1991 vor dem Finanzgericht (FG) Klage, ohne durch einen Verfahrensbevollmächtigten vertreten zu sein. Anlaß für die Klage waren Unstimmigkeiten zwischen dem Kläger und seinem Dienstherrn, dem Land X, vertreten durch das Landesamt Y. Diese hatten sich ergeben, weil das Landesamt bestimmte Abschlagszahlungen im Hinblick auf eine noch durchzuführende Lohnversteuerung gemindert hatte. Die Zahlungen waren erfolgt aufgrund eines Rechtsstreits, in dem der Kläger gegenüber seinem Dienstherrn obsiegt hatte. Seinen Klageantrag formulierte der Kläger wie folgt:
,,Ich beantrage, meinen im Vorverfahren gestellten Anträgen zu entsprechen, die insbesondere folgende Punkte betreffen:
1. Aufteilung der Abschlagszahlungen auf die Jahre 1977-81,
2. Subsumierung unter § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO und § 34 EStG,
3. Anwendung der Steuerklasse III/5 (Grundfreibeträge, Kinderfreibeträge etc.),
4. Einheitlichkeit des gesamten mehrstufigen und mehrspurigen ESt-Erhebungsverfahrens für das jeweilige Kalenderjahr (. . .),
5. Zuständigkeit und Parteiwechsel kraft Gesetzes,
6. Vorläufigkeit der Steuerfestsetzungen (§ 165 Abs. 1 AO) und Erstattung der o. a. Steuerbeträge,
7. Beitritt des Finmin X (Land X ist Dienstherr und Steuergläubiger - Zwitterstellung und -funktion).
Nach . . . werde ich meine Anträge präzisieren und erforderlichenfalls weitere Anträge stellen."
Vor Erhebung der Klage hatte der Kläger bereits einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestellt, der vom FG durch Beschluß vom 14. Dezember 1990 als unzulässig abgelehnt worden war. Einwendungen gegen diesen Beschluß, die der Kläger in einer Reihe von Schriftsätzen vorgebracht hatte, hatte das FG als Antrag auf Tatbestandsberichtigung und Beschlußergänzung gewertet und durch Beschluß vom 4. März 1991 diesen Antrag abgelehnt.
Nachdem der Kläger die - in den Gerichtsakten nicht belegte - Eingangsbestätigung für seine Klage erhalten hatte, richtete er an das FG unter dem Datum 1. März 1991 ein Schreiben, in dem er die Form der o. g. finanzgerichtlichen Verfügung (bezüglich Datumsangabe und Gegenstandsbezeichnung) beanstandete und um entsprechende Berichtigung bzw. Ergänzung bat. Mit Schreiben vom 7. April 1991 erinnerte der Kläger nochmals an sein Anliegen und bat darüber hinaus um Mitteilung, ob und wann dem Finanzamt (FA) eine Kopie seiner Klageschrift zugesandt worden sei. Nachdem der Berichterstatter mit Verfügung vom 25. April 1991 den Kläger auf die Grundsätze der Aktenführung beim FG hingewiesen und ihm das gewünschte Datum (Übersendung der Klageschrift an das FA) mitgeteilt hatte, verfaßte der Kläger am 3. Mai 1991 ein weiteres Schreiben an das FG. Hierin führte er u. a. aus, wie (nach seiner Meinung) das FG die Sache verfahrensmäßig richtig zu behandeln habe. Seinen Antrag vom 1. März 1991 auf Ergänzung und Berichtigung - so der Kläger weiter - halte er aufrecht und erwarte die Entscheidung des Gerichts. Ihm sei außerdem noch eine Kopie der Verfügung zuzuleiten, mit der das Gericht dem FA die Klageschrift übersandt und Frist zur Stellungnahme gesetzt habe.
Mit Beschluß vom 15. Mai 1991 ordnete das FG gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO an, daß für den Kläger ein Bevollmächtigter bestellt werden muß. Zur Begründung führte es u. a. aus, der Kläger verstehe es nicht, seine Rechte und Interessen in einer Weise wahrzunehmen, die dem Gericht eine ordnungsgemäße Rechtspflege ermögliche. Seine Schriftsätze zeigten, daß er weder in der Lage noch gewillt sei, sachgemäß vorzutragen und sachdienliche Anträge zu stellen.
Gegen diesen Beschluß hat der Kläger Beschwerde erhoben.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der angefochtene Beschluß war aufzuheben, weil für die darin getroffene Anordnung des FG, daß für den Kläger gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO ein Bevollmächtigter bestellt werden muß, nicht die erforderlichen Voraussetzungen vorliegen.
1. Nach § 62 Abs. 1 FGO können die Beteiligten sich vor dem FG durch Bevollmächtigte vertreten lassen und sich in der mündlichen Verhandlung eines Beistands bedienen (Satz 1 der Vorschrift). Durch Beschluß kann angeordnet werden, daß ein Bevollmächtigter bestellt oder ein Beistand hinzugezogen werden muß (Satz 2 der Vorschrift).
Die Anordnung nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO dient vor allem dem Beteiligten selbst, der nicht in der Lage ist, seine Interessen gehörig wahrzunehmen; gleichzeitig soll sie aber auch eine geordnete Rechtspflege gewährleisten (vgl. Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 62 Anm. 36, m. w. N.). Die Entscheidung, ob eine Maßnahme gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO zu treffen ist, steht nach dem Gesetzeswortlaut im Ermessen des Gerichts; die Anordnung ist aber nach der Rechtsprechung vom Vorliegen weiterer, aus dem Gesetzeszusammenhang abgeleiteter, Voraussetzungen abhängig. Hiernach ist die Anordnung dann gerechtfertigt, wenn der Beteiligte nicht in der Lage ist, seine Rechte wahrzunehmen, insbesondere wenn ihm die Fähigkeit zum schriftlichen oder mündlichen Vortrag fehlt (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. August 1974 V B 23/74, BFHE 113, 267, BStBl II 1975, 17), wenn er zum sachgemäßen Vortrag seines Streitfalles und zur Stellung sachgemäßer Anträge nicht in der Lage ist (BFH-Beschluß vom 27. Januar 1967 VI B 39/66, BFHE 88, 72, BStBl III 1967, 289), wenn er die Notwendigkeit bestimmter verfahrensrechtlicher Voraussetzungen nicht einzusehen vermag und für Rechtsbelehrungen nicht zugänglich ist (BFH-Beschluß vom 18. Februar 1971 5 K 1/69, BFHE 101, 357, BStBl II 1971, 370), wenn er mit unsachlichen und beleidigenden Ausführungen in seinen Schriftsätzen Anlaß gibt, an seiner Fähigkeit zu einer dem eigenen Interesse dienenden sachgerechten Prozeßführung zu zweifeln (BFH-Beschluß vom 14. November 1988 IV B 77/88, BFH/NV 1989, 515).
Auch wenn ein Beteiligter - wie hier vom FG angenommen - sich in einer Weise verhält, die einem der vorstehend geschilderten Fälle entspricht, darf das Gericht nicht ohne weiteres von der ihm nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO zustehenden Anordnungsbefugnis Gebrauch machen. Es muß zunächst prüfen, ob die anzuordnende Maßnahme rechtsstaatlichen Erfordernissen, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, entspricht, ob sie also geeignet und erforderlich ist, ihren Zweck zu erreichen, und ob sie den Betroffenen nicht übermäßig belastet (vgl. Beschluß des BVerfG vom 19. Oktober 1982 1 BvL 34,55/80, BVerfGE 61, 126, 134). Eine Maßnahme ist nicht erforderlich im vorstehenden Sinne, solange noch die Möglichkeit besteht, den angestrebten Erfolg durch ein milderes Mittel sicherzustellen (BVerfG in BVerfGE 61, 126, 135). Dies bedeutet für die Anordnung nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO, daß das Gericht zuvor der ihm obliegenden Hinweispflicht nach § 76 Abs. 2 FGO nachgekommen sein muß. Nach der genannten Vorschrift hat der Vorsitzende bzw. der von ihm bestimmte Berichterstatter darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. In anderen Verfahrensordnungen gilt Entsprechendes (vgl. z. B. § 86 Abs. 3 der Vewaltungsgerichtsordnung - VwGO -, § 139 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Hiernach haben die Gerichte dafür zu sorgen, daß die Rechtsverwirklichung nicht an der Unkenntnis, Unerfahrenheit oder Unbeholfenheit des Rechtsuchenden scheitert (vgl. BVerwG-Urteil vom 8. Mai 1984 9 C 141/83, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ - 1985, 36). § 76 Abs. 2 FGO dient - in ähnlicher Weise wie § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO - dem Ziel, ein faires Verfahren zu gewährleisten und (ganz allgemein) den Prozeß zu fördern (vgl. Gräber / von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 76 Anm. 40 f.; Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 76 FGO Tz. 8).
Aufgrund der vorstehenden Erwägungen hält der Senat die Anordnung nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO für den Regelfall nur dann für gerechtfertigt, wenn die begründete Besorgnis besteht, daß der Beteiligte trotz der zuvor angebotenen Mithilfe des Vorsitzenden oder Berichterstatters nicht in der Lage ist, sachgemäße Anträge zu stellen oder auf die bestehende und sich ändernde Prozeßlage nach entsprechender Aufklärung durch das Gericht mit sachgemäßen Prozeßerklärungen zu reagieren (ebenso: Verwaltungsgerichtshof - VGH - Mannheim, Beschluß vom 6. Dezember 1973 III 805/73, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1974, 764; vgl. auch: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 62 FGO Rz. 7; Eyermann / Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 67 Rdnr. 23, 25: ,,Das Gericht muß den Beteiligten zunächst erfolglos abgemahnt haben.").
2. Im vorliegenden Klageverfahren hat der Berichterstatter in seiner Verfügung vom 25. April 1991 dem Kläger lediglich mitgeteilt, nach welchen Grundsätzen beim FG die Akten geführt werden. Mit dieser Mitteilung allein war noch nicht den Anforderungen genügt, die nach § 76 Abs. 2 FGO an die Fürsorgepflicht des Vorsitzenden bzw. des Berichterstatters zu stellen sind. Angesichts des vorangegangenen Verfahrens wegen Aussetzung der Vollziehung sowie der in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Rechtsstreitigkeiten wäre es nach Auffassung des Senats angezeigt gewesen, die Sache zunächst mit dem Kläger (ausführlich) zu erörtern. Wenn schon nicht das Gericht die Sache mit dem Kläger erörtern und ihn auf diesem Wege veranlassen wollte, einen sachgemäßen Klageantrag zu stellen, so hätte es ihm zumindest schriftlich entsprechende Auflagen machen müssen.
Auf Maßnahmen nach § 76 Abs. 2 FGO hätte das FG nur verzichten dürfen, wenn von vornherein zu erwarten gewesen wäre, daß solche erfolglos bleiben würden. Daß diese Voraussetzungen im Falle des Klägers vorlagen, läßt sich dem angefochtenen Beschluß nicht entnehmen. Dort ist zwar ausgeführt, die getroffene Anordnung sei der einzige Weg, weiteren sinnlosen Anträgen des Klägers zu begegnen, und sie sei auch verhältnismäßig, weil ohne sie nicht zu erwarten sei, daß der Rechtsstreit einwandfrei und sachgerecht abgewickelt werden könne. Der Beschluß läßt jedoch nicht erkennen, auf welche (konkreten) Tatsachen das FG seine Erkenntnisse stützt. Soweit das FG eine Reihe von Schriftsätzen auflistet, die der Kläger im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung eingereicht hat, so läßt dies lediglich auf eine ungewöhnliche Anhäufung von Eingaben schließen, nicht jedoch auf deren Unsinnigkeit. Unter diesen Umständen sieht sich der Senat außerstande, nachzuvollziehen, aufgrund welcher Umstände das FG angenommen hat, der Kläger sei nicht in der Lage und nicht gewillt, sachgemäß vorzutragen.
Nach Lage der Akten erkennt der Senat keinen hinreichenden Anlaß für die Annahme, der Kläger sei von vornherein nicht bereit oder imstande, sachdienlichen Hinweisen des Gerichts nachzukommen. Hinsichtlich des Klageantrags ergibt sich bereits aus der Klageschrift, daß der Kläger seine ,,Anträge präzisieren und erforderlichenfalls weitere Anträge stellen" will und damit grundsätzlich bereit ist, einen sachgemäßen Klageantrag zu stellen. Als Steuerbeamter (im Ruhestand) verfügt der Kläger über steuerrechtliche Kenntnisse. Wie seine Schriftsätze zeigen, hat er sich u. a. mit den verfahrensrechtlichen Problemen des Lohnsteuerabzugs auseinandergesetzt, so beispielsweise mit Zitaten aus dem einschlägigen Schrifttum auf Seite 4 seines Schreibens vom 26. Dezember 1990, mit dem er die Berichtigung und Ergänzung des FG-Beschlusses im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung beantragt hatte. Wie sich aus den Akten ferner ergibt, hat der Kläger in der Vergangenheit bereits verschiedene Rechtsstreitigkeiten bis in höhere und oberste Instanzen durchgefochten, so insbesondere das Verfahren wegen Nachentrichtung seiner Beamtenbezüge. Es ist daher davon auszugehen, daß ihm die Grundregeln des gerichtlichen Verfahrens nicht völlig fremd sind. Zwar hat der Kläger die Neigung gezeigt, das Gericht in verfahrensmäßigen Fragen belehren zu wollen (vgl. z. B. im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung: Schreiben vom 15. Januar 1991 - ,,ich hoffe, daß Sie auch § 76 FGO beachten. . . " -, im vorliegenden Klageverfahren: Schreiben vom 3. Mai 1991, zu 1. b und zu 2. c). Nach Auffassung des Senats kann aus diesem Verhalten jedoch noch nicht ohne weiteres geschlossen werden, der Kläger sei einer Erörterung der anliegenden steuerrechtlichen und verfahrensrechtlichen Fragen nicht zugänglich, werde richterlichen Anordnungen nicht Folge leisten und werde damit von Anfang an verhindern, daß der anhängige Rechtsstreit angemessen und sachgerecht abgewickelt werden kann.
3. Der Senat braucht nicht, wie in § 143 Abs. 1 FGO vorgesehen, über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Nach § 135 Abs. 1 FGO trägt die Kosten des Verfahrens der unterliegende Beteiligte; nach § 135 Abs. 2 FGO trägt die Kosten des erfolglos eingelegten Rechtsmittels der Rechtsmittelführer. Das vorliegende Zwischenverfahren betrifft allein den Kläger, der mit seinem Rechtsmittel Erfolg gehabt hat (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 113, 267, BStBl II 1975, 17).
Fundstellen
Haufe-Index 418390 |
BFH/NV 1992, 681 |