Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassung der Revision wegen Verfahrensmangels; freiberufliche Tätigkeit des Betreibers eines häuslichen Pflegedienstes
Leitsatz (NV)
Der (für die Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensmangels unvollständiger Sachverhaltsermittlung maßgebliche) Rechtsstandpunkt des FG, das Merkmal der Eigenverantwortlichkeit als Voraussetzung freiberuflicher Tätigkeit der Klägerin setze voraus, daß sie jeden Patienten persönlich kannte, "also nicht nur vom Papier her", und somit ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Kranken herstellen konnte, verlangt die Ermittlung der Zahl der "persönlich zu besuchenden/betreuenden" Patienten einerseits und der dafür neben der "leitenden Tätigkeit" verbleibenden Arbeitszeit der Klägerin zum anderen.
Normenkette
UStG 1980 § 4 Nr. 14; EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist examinierte Krankenschwester. Sie betreibt einen sogenannten häuslichen Pflegedienst. Ein Außenprüfer des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzamt -- FA --) ermittelte zur Tätigkeit der Klägerin in den Streitjahren 1984 und 1985 folgendes:
1984 beschäftigte die Klägerin drei Krankenschwestern/-pfleger und siebzehn "Hauspfleger". 1985 waren es sieben Krankenschwestern/-pfleger, zwei Altenpfleger, fünf Pflegehelferinnen und etwa achtzig "Hauspfleger".
Nach den von der Klägerin vorgelegen Aufnahmebüchern hatte ihr Pflegedienst 1983 zwischen zwanzig und dreißig Patienten monatlich zu betreuen. 1984 stieg diese Zahl -- nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) -- "auf etwa zwischen vierzig und achtzig Patienten" (monatlich) an. Für 1985 gibt es keine Aufzeichnungen. Die Patienten wurden in der Regel einen, zum Teil auch zwei Monate betreut.
Der Pflegedienst übernahm die medizinische Betreuung und die hauswirtschaftliche Versorgung. Die Tätigkeit der Klägerin bestand darin, die Patienten aufzunehmen, Behandlungsvorschläge zu erstellen, das eigene Personal in den einzelnen Pflegefall entsprechend den Bedürfnissen des Patienten und der ärztlichen Verordnung einzuweisen, an dem ersten, gelegentlich auch an weiteren Besuchen in der Wohnung des Patienten teilzunehmen und sich täglich Arbeitsberichte ihrer Mitarbeiter geben zu lassen.
Die Klägerin vertrat die Ansicht, sie übe eine freiberufliche "ähnlich heilberufliche Tätigkeit" i. S. von § 18 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) aus. Abweichend davon führte das FA für 1984 und 1985 erstmals Veranlagungen zur Umsatz- und Gewerbesteuer durch.
Nach erfolglosen Einsprüchen hob das FG die Gewerbesteuerbescheide für 1984 und 1985 auf und änderte die Umsatzsteuerbescheide durch Minderung der "steuerpflichtigen Umsätze aus den Pflegeleistungen 1984 und 1985 und ... (der) darauf entfallenden Vorsteuern um 1/3".
Das FG stützte letzteres darauf, daß nach "der in der mündlichen Verhandlung erfolgten tatsächlichen Verständigung ... die Beteiligten davon aus(gehen), daß der Anteil der Entgelte, der in den Streitjahren 1984 und 1985 auf die Behandlungspflege entfällt, 1/3 der Gesamtumsätze beträgt".
Es kam zum Ergebnis, daß das FA die Tätigkeit der Klägerin zu Unrecht als gewerbliche und nicht als freiberufliche i. S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG eingestuft habe. Unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. März 1995 XI R 85/93 (BFHE 177, 377, BStBl II 1995, 732) führte das FG aus, die Klägerin sei nicht nur leitend, sondern auch eigenverantwortlich tätig geworden.
Zwar sei unter Berücksichtigung der ständig wachsenden Patientenzahl davon auszugehen, daß die sogenannten Hauspfleger nicht nur untergeordnete Aufgaben der Krankenpflege wahrgenommen hätten.
Gleichwohl habe die Klägerin in genügendem Umfang mitgewirkt, um ihre Tätigkeit als eine freiberufliche einzustufen. Nach ihren unbestrittenen Angaben habe sie die Aufnahme des einzelnen Patienten durchgeführt, den Erstbesuch des Kranken gemacht oder begleitet. Sie kenne also jeden Patienten persönlich und nicht nur vom Papier her und habe somit ein gewisses Vertrauensverhältnis zu dem Kranken herstellen können. Die Klägerin habe sich durch die Arbeitsberichte der Mitarbeiter auch täglich über den aktuellen Gesundheitszustand jedes einzelnen Pfleglings unterrichtet. Sie sei ständig einsatzbereit gewesen und habe sich erforderlichenfalls durch Folgebesuche persönlich über den Gesundheitszustand des Patienten informiert.
Die häusliche Krankenpflege habe sich von dem allein tätigen selbständigen Krankenpfleger hin zu organisierten Pflegediensten fortgebildet. Dieser Entwicklung folgend sei für die Zulassung bei der AOK ein qualifiziertes Personal von mindestens fünf examinierten Krankenschwestern (Mitte der 80er Jahre) bzw. von acht examinierten Krankenschwestern (seit 1993) erforderlich. Dieser "Zug der Zeit" sei bei der Ermittlung der das Berufsbild der häuslichen Krankenpflege prägenden Tätigkeit mit zu berücksichtigen.
Von den danach in freiberuflicher Tätigkeit ausgeführten Umsätzen seien die aus einer "ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit" i. S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG gemäß § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1980 umsatzsteuerfrei. Darunter falle bei der häuslichen Krankenpflege die sogenannte Behandlungspflege. Nicht heilberuflicher Art seien hingegen die Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung (BFH-Beschluß vom 16. Dezember 1993 V B 124/93, BFH/NV 1995, 652). Die Tätigkeitsbereiche seien voneinander trennbar. Nach der tatsächlichen Verständigung der Beteiligten entfielen auf die Behandlungspflege 1/3 der aus dem Pflegedienst erzielten Erlöse. Das seien 1984 brutto ... DM und 1985 brutto ... DM.
Das FA beantragt mit der Beschwerde Zulassung der Revision wegen Verfahrensmangels und wegen Abweichung.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des FA hat hinsichtlich des Jahres 1984 keinen Erfolg. Hinsichtlich des Jahres 1985 ist sie begründet.
1. Der Senat ist zur Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde auch zuständig, soweit mit ihr das Urteil des FG außer zur Umsatzsteuer noch zur Gewerbesteuer angefochten wird. Den höchsten Streitwert hat die Umsatzsteuer. Ferner sind zu den beiden Steuern nur solche Rechtsfragen -- zu § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG -- streitig, die einheitlich zu entscheiden sind (vgl. Geschäftsverteilungsplan des Bundesfinanzhofs für das Jahr 1997, A. Sachliche Zuständigkeit der Senate, Ergänzende Regelungen, I. Übergreifende Zuständigkeiten, Nr. 1 und 3, BStBl II 1997, 104).
2. Auf Abweichung der angefochtenen Entscheidung von den BFH-Urteilen vom 27. Juli 1994 XI R 53/91 (BFH/NV 1995, 1048) und in BFHE 177, 377, BStBl II 1995, 732 kann die Nichtzulassungsbeschwerde nicht mit Erfolg gestützt werden. Es fehlt insoweit schon an der Rüge, das FG habe in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage einen Rechtssatz zugrunde gelegt, der mit den ebenfalls tragenden rechtlichen Erwägungen der bezeichneten BFH- Urteile nicht übereinstimme (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 115 Rz. 17, m. N.). Das FA gibt vielmehr seine Auffassung wieder, daß das FG-Urteil "im Widerspruch" zu diesen BFH-Urteilen stehe und die Kriterien des BFH zum Merkmal der Eigenverantwortlichkeit verkannt habe. Diese Rüge unzutreffender Anwendung vorhandener Kriterien ist keine Divergenzrüge.
3. Der vom FA geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) führt jedoch zur Zulassung der Revision gegen das Urteil, soweit es das Jahr 1985 betrifft.
a) Das FA führt aus, das FG habe sein Urteil auf der Grundlage eines unvollständig ermittelten Sachverhalts gefällt und damit gegen § 76 FGO verstoßen.
Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung sei der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im wesentlichen strittig geblieben. Gleichwohl habe das FG eine Entscheidung getroffen, ohne den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufgeklärt zu haben; dem FG habe sich -- schon aufgrund der (festgestellten) Umsatzsteigerungen von 1984 zu 1985 in Höhe von 320 v. H. und der gestiegenen Anzahl des Pflegepersonals (1984: 20 Personen; 1985: 94 Personen) -- eine weitergehende Aufklärung aufdrängen müssen.
Bei der häuslichen Krankenpflege stünden die erzielten Einnahmen unmittelbar mit der Zahl der zu betreuenden Patienten und den daraus resultierenden Einsatzzahlen in Zusammenhang. Für 1984 habe die Klägerin die genauen Patientenzahlen nicht angegeben. Das FG gehe von 40 bis 80 Patienten monatlich aus. Für 1985 ergebe eine Hochrechnung anhand der Umsatzsteigerung monatliche Patientenzahlen von mindestens 192 (bezogen auf 60 Patienten 1984) bzw. von 376 Patienten (bezogen auf 80 Patienten 1984). Allein die Durchsicht der täglichen Arbeitsberichte für 192 täglich zu besuchende Patienten erfordere bei einem veranschlagten Zeitaufwand von 10 Minuten je Patientenbericht einen Zeitaufwand von 32 Stunden. Hinzu komme noch die Zeit für leitende Tätigkeit (tägliche Einsatzplanung, Neuaufnahmen und Erstbesuche von Patienten).
Das FG habe auf die Vorlage entscheidungserheblicher Aufzeichnungen und Unterlagen verzichtet bzw. aus der Nichtvorlage falsche rechtliche Folgerungen gezogen. Bereits im Einspruchsverfahren sei die Klägerin mit Schreiben vom 25. August 1992 erfolglos (trotz mehrfacher Erinnerung) aufgefordert worden, die Anzahl der 1984 und 1985 betreuten Patienten mitzuteilen (Einspruchsentscheidung vom 26. Mai 1994 Seite 5).
Nach dem Vortrag des FA hätte das FG folgende Tatsachen ermitteln müssen:
1. Zahl der Patienten monatlich/täglich;
2. Zahl der Neuzugänge und der Abgänge jährlich;
3. Zeitaufwand für jede von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit (organisatorisch und pflegerisch), ggf. unter Heranziehung der Patientenkartei (vgl. Urteil des FG-Rheinlan-Pfalz vom 6. März 1996 5 K 1097/96, zugelassene Revision eingelegt, BFH-Az. IV R 43/96).
Das FG hätte dann selbst unter Zugrundelegung seiner (irrigen) Rechtsansicht zur Klageabweisung kommen müssen, weil sich aufgrund der -- unterlassenen -- Feststellungen keine Eigenverantwortlichkeit ergeben hätte.
b) Das FA trägt damit schlüssig vor, daß das FG (jedenfalls für 1985) den Sachverhalt nicht ausreichend festgestellt hat (§ 76 FGO) und daß die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Nach dem (für die Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensmangels maßgeblichen) Rechtsstandpunkt des FG setzt das Merkmal der Eigenverantwortlichkeit bei der Tätigkeit der Klägerin voraus, daß sie jeden Patienten persönlich kannte, "also nicht nur vom Papier her", und somit ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Kranken herstellen konnte. Diese Beurteilung setzt die Ermittlung der Zahl der "persönlich zu besuchenden/betreuenden" Patienten einerseits und der dafür neben der "leitenden Tätigkeit" verbleibenden Arbeitszeit der Klägerin zum anderen voraus.
aa) Für 1984 lagen dem FG immerhin grobe Richtzahlen, wenn auch keine genauen Angaben der Klägerin über die Patientenzahl vor. Dadurch erweist sich die Rüge nicht ausreichender Sachverhaltsfeststellung für das Streitjahr 1984 als unbegründet. Ob das FG aus diesen Feststellungen zutreffende rechtliche Folgerungen gezogen hat, ist keine Frage eines Verfahrensfehlers, sondern eines materiellen Rechtsfehlers (vgl. Gräber/Ruban, a. a. O., § 115, Rz. 26, 27). Die vom FG angenommene Möglichkeit eigenverantwortlicher Tätigkeit der Klägerin wird vom FA für 1984 auch nicht schlüssig angegriffen.
bb) Für 1985 legt das FA hingegen hinreichend dar, daß sich weitere Ermittlungen zu den fehlenden Patientenzahlen hinsichtlich der erheblichen Umsatzsteigerungen gegenüber dem Vorjahr hätten aufdrängen müssen.
Dabei steht dem Erfolg der Verfahrensrüge nicht entgegen, daß das FA -- soweit nach den Feststellungen und dem Beschwerdevortrag ersichtlich -- im finanzgerichtlichen Verfahren keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat (vgl. BFH-Urteil vom 3. Mai 1985 VI R 176/81, BFH/NV 1985, 45). Nach dem vom FG in Bezug genommenen Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 13. August 1996 blieb der Fall insoweit "in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht streitig". Im vorliegenden Fall mußte das FA nicht damit rechnen, daß das FG seine Entscheidung lediglich auf die (ungenauen) Patientenzahlen für 1984 und ohne Ermittlungen zu den offensichtlich erheblich höheren Patientenzahlen für 1985 stützen würde.
4. Die Kostenentscheidung ergeht nur, soweit die Nichtzulassungsbeschwerde (für 1984) ohne Erfolg geblieben ist; sie beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Fundstellen