Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine rückwirkende Erhöhung der Kinderfreibeträge 1983 bis 1985 bei Festsetzungsverjährung
Leitsatz (NV)
1. Beschränkt der Gesetzgeber eine rückwirkende gesetzliche Neuregelung, die er aufgrund einer Entscheidung des BVerfG treffen muß, auf die noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Fälle, so besteht erst recht kein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Bescheide, wenn über die Bestandskraft hinaus auch noch Festsetzungsverjährung eingetreten ist (Bestätigung der Rechtsprechung).
2. Die Aussetzung des Verfahrens über eine Nichtzulassungsbeschwerde betreffend einen bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid und nach eingetretener Festsetzungsverjährung kommt deshalb nicht in Betracht, wenn beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist, die lediglich einen bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid ohne Eintritt der Festsetzungsverjährung betrifft (Bestätigung von BFH-Beschluß vom 9. September 1994 III B 78/94, BFHE 175, 318).
Normenkette
AO 1977 § 170 Abs. 2 Nr. 1, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG i.d.F. des StÄndG 1991 § 54; FGO §§ 74, 155
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurden durch bestandskräftige Bescheide vom 16. Januar 1986, 4. März 1986 und 21. August 1986 für die Jahre 1983 bis 1985 zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Die bezüglich von Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft für vorläufig erklärten Bescheide wurden mit Bescheiden vom 22. Februar 1990 für endgültig erklärt.
Mit am 19. August 1991 beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt -- FA --) eingegangenen Schreiben beantragen die Kläger, durch Änderung der genannten Steuerbescheide die gemäß Steueränderungsgesetz (StÄndG) 1991 vom 24. Juni 1991 (BGBl I 1991, 1322) erhöhten Kinderfreibeträge für ihre drei Kinder zu berücksichtigen. Das FA lehnte dies ab.
Die nach erfolglosem Einspruchverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Zur Begründung führte das FG aus, § 54 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. d. F. des StÄndG 1991 lasse eine Berücksichtigung der erhöhten Kinderfreibeträge nur in den noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Fällen zu. Da die Steuerbescheide für die Jahre 1983 bis 1985 in den Fällen der Kläger bestandskräftig geworden seien, seien somit die Voraussetzungen für eine Änderung dieser Bescheide nicht gegeben. Der Ausschluß der bestandskräftig abgeschlossenen Fälle von der Erhöhung der Kinderfreibeträge sei mit der Verfassung vereinbar.
Das FG ließ die Revision nicht zu. Hier gegen richtet sich die Nichtzulassungs beschwerde der Kläger. Zur Begründung berufen sich die Kläger auf grundsätzliche Bedeutung der Sache.
Die grundsätzliche Bedeutung sehen die Kläger darin, daß nach ihrer Auffassung § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 verfassungswidrig ist. § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), auf den sich die Regelung stütze, werde zwar in ständiger Rechtsprechung für verfassungsgemäß gehalten. Dies könne aber im Falle des § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 nicht gelten. Der dem § 79 Abs. 2 BVerfGG zugrundeliegende Gedanke, daß der Rechts sicherheit und dem Rechtsfrieden Vorrang gegeben werden vor einer größtmöglichen Gerechtigkeit im Einzelfall, bewirke hier genau das Gegenteil. Die deutsche Bevölkerung mit Kindern werde durch § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 in zwei Gruppen gespalten, in eine durch erhöhte Kinderfreibeträge begünstigte und in eine nichtbegünstigte Gruppe. Dies verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 und 2 und Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).
Die Kläger beantragen, die Revision zuzulassen.
Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet.
1. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Maßgebend hierfür ist der gegenwärtige Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. u. a. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 19. Dezember 1973 VI B 105/73, BFHE 111, 396, BStBl II 1974, 321; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Rdnr. 68, m. w. N.). Unerheblich ist daher, ob die Nichtzulassungsbeschwerde im Zeitpunkt ihrer Einlegung begründet war.
Der erkennende Senat hat inzwischen mit Urteil vom 11. Februar 1994 III R 50/92 (BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389) in einem anderen Fall entschieden, daß kein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Bescheide besteht, wenn der Gesetzgeber -- wie in § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 -- eine rückwirkende gesetzliche Neuregelung, die er aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) treffen muß, auf die noch nichtbestandskräftig abgeschlossenen Fälle beschränkt. Dabei hat sich der Senat eingehend mit den verfassungsrechtlichen Einwendungen gegen § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 auseinandergesetzt und die Regelung für verfassungsgemäß gehalten. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diese Entscheidung Bezug genommen. Die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) auch höhere Kinderfreibeträge in den Fällen zu gewähren sind, in denen Bestandskraft der Steuerbescheide eingetreten ist, ist daher durch den BFH geklärt und nicht mehr klärungsbedürftig.
Der Streitfall unterscheidet sich von dem Fall, der dem Urteil in BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389 zugrundelag, sogar noch dadurch, daß vor dem Antrag der Kläger auf Änderung der Steuerbescheide für die Jahre 1983 bis 1985 nicht nur Bestandskraft dieser Steuerbescheide, sondern nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) Festsetzungsverjährung eingetreten war. Das gilt selbst dann, wenn gemäß § 171 Abs. 8 AO 1977 durch die Vorläufigkeitserklärung der Steuerbescheide die Festsetzungsverjährung auch hinsichtlich der Kinderfreibeträge gehemmt worden wäre. Die Festsetzungsfrist hätte dann spätestens ein Jahr nach der Endgültigkeitserklärung der vorläufigen Bescheide durch die Bescheide vom 22. Februar 1990 geendet. Dieser Zeitpunkt lag also ebenfalls vor dem am 19. August 1991 beim FA eingegangenen Antrag auf Änderung der bestandskräftigen Bescheide wegen der Kinderfreibeträge.
Die Änderung von bestandskräftigen Bescheiden, bei denen -- wie im Streitfall -- Festsetzungsverjährung eingetreten ist, bedeutet eine erheblich schwerwiegendere Beeinträchtigung der rechtsstaatlichen Forderung nach Rechtssicherheit als die Änderung von bestandskräftigen Bescheiden in Fällen, in denen noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist. In solchen Fällen besteht daher erst recht kein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Bescheide. Dies hat der erkennende Senat in Fortführung des Urteils in BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389 mit Beschluß vom 9. September 1994 III B 78/94 (BFHE 175, 318) entschieden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auch auf diese Entscheidung Bezug genommen. Auch insoweit besteht daher kein Klärungsbedarf durch den BFH mehr.
2. Das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde war nicht gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen, obwohl das Urteil des Senats in BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389 mit der Verfassungsbeschwerde angefochten worden ist (Az. des BVerfG: 2 BvR 901/94).
Die Voraussetzungen, die nach der Rechtsprechung des BFH für eine Aussetzung von Verfahren vor dem FG oder dem BFH wegen eines beim BVerfG anhängigen Musterprozesses vorliegen müssen (vgl. BFH- Beschlüsse vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408; vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123, und vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797), sind im Streitfall nicht erfüllt.
Nach dieser Rechtsprechung ist die Aussetzung eines Verfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren u. a. nämlich nur dann gerechtfertigt, wenn die oder das Musterverfahren und das Verfahren, dessen Aussetzung in Frage steht, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im wesentlichen gleichgelagert sind (Beschluß des erkennenden Senats vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240). Wie oben bereits ausgeführt worden ist, unterscheidet sich der Streitfall von dem vor dem BVerfG anhängigen Musterverfahren dadurch, daß nicht nur Bestandskraft, sondern auch Festsetzungsverjährung hinsichtlich der Steuerbescheide eingetreten ist, deren Änderung begehrt wird. Im Streitfall geht es also um eine wesentlich weitergehende Frage als in der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Senats in BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389.
Fundstellen
Haufe-Index 420568 |
BFH/NV 1995, 948 |