Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung
Leitsatz (NV)
1. Zur Zulässigkeit eines Begehrens auf Gewährung vorläufigen vorbeugenden Rechtsschutzes (hier: einstweiliger Nichtvollzug des Straßenbenutzungsgebührengesetzes).
2. Bei einseitiger Erledigungserklärung des Antragstellers führt die nur hilfsweise Erledigungserklärung des Antragsgegners nicht zu einer isolierten Kostenentscheidung. Ist Erledigung eingetreten, so sind die Kosten dem Antragsgegner aufzuerlegen (Änderung der Rechtsprechung).
Normenkette
FGO §§ 114, 135 Abs. 1, § 138; StrBG §§ 5, 12 Abs. 3, §§ 13-14
Tatbestand
Die Antragstellerinnen und Beschwerdeführerinnen (Antragstellerinnen) sind Transportunternehmen belgischen Rechts. Sie richteten nach der Verkündung, bis auf die Antragstellerin zu 5, jedoch vor Inkrafttreten des Straßenbenutzungsgebührengesetzes (StrBG) vom 30. April 1990 (BGBl I 1990, 826) - 1. Juli 1990 - an den Antragsgegner und Beschwerdegegner - ein Grenz-Hauptzollamt (HZA) - das Begehren, ihnen gegenüber zu erklären, daß ihren Lastfahrzeugen die ungehinderte Einreise und Durchfahrt durch die Bundesrepublik Deutschland gestattet werde, und die gesetzlich vorgesehenen Gebühren vorübergehend zu stunden. Nach Ablehnung dieser Begehren durch das HZA beantragten die Antragstellerinnen beim Finanzgericht - FG - den Erlaß einer einstweiligen Anordnung dahin, daß dem HZA ungeachtet einer Nichtzahlung von Gebühren die begehrte Gestattung und die Erteilung von Bescheinigungen hierüber aufgegeben werde. Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - in dem Verfahren wegen der von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft gegen die Bundesrepublik Deutschland beantragten einstweiligen Anordnung entschieden hatte (Beschluß vom 12. Juli 1990 Rs. C 195/90 R, Recht der Internationalen Wirtschaft - RIW - 1990, 847), daß die Gebührenerhebung für die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge bis zum Erlaß des Urteils zur Hauptsache auszusetzen sei, wurden die Zolldienststellen angewiesen, entsprechend zu verfahren (vorab am 29. Juni 1990, sodann - Absehen von der Gebührenerhebung bis auf weiteres für alle schweren Lastfahrzeuge - am 19. Juli 1990). Die Antragstellerinnen erklärten nach Bekanntwerden des der - letzten - Anweisung zugrunde liegenden Kabinettsbeschlusses (vom 18. Juli 1990) den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und beantragten, dem HZA die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Das HZA beantragte, den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abzuweisen; hilfsweise erklärte es die Hauptsache für erledigt.
Das FG wies die Anträge als unzulässig ab. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse habe - so das FG - von Anfang an nicht vorgelegen. Der nachgesuchte vorbeugende Rechtsschutz könne nur gewährt werden, wenn zu besorgen sei, daß sonst vollendete, nicht ohne weiteres reparable Tatsachen oder Rechtsverhältnisse geschaffen würden. Hier hätte jedoch nachträglicher - ggf. vorläufiger - Rechtsschutz gegen eine Gebührenerhebung genügt. Im übrigen hätte auch ein den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechender Entrichtungszeitraum gewählt werden können. Im Hinblick auf die Unzulässigkeit der Anträge sei eine Erledigung nicht eingetreten, die einseitige Erledigungserklärung somit unwirksam.
Gegen diesen Beschluß richtet sich die Beschwerde der Antragstellerinnen. Sie führen im wesentlichen aus, nach dem Beschluß in RIW 1990, 847 müßten die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung als gegeben angesehen werden. Das FG habe auch nicht berücksichtigt, daß nach dem StrBG (§ 12) bei Nichtentrichtung der Gebühr die Erhebung einer erhöhten Gebühr, eine Beschlagnahme des Fahrzeugs und die Verhängung von Bußgeldern gedroht hätte. Es sei nicht zumutbar gewesen, solche behördlichen Maßnahmen abzuwarten und sie erst nachträglich anzufechten oder einen kurzen Entrichtungszeitraum mit überproportionalen Gebührensätzen zu wählen und sich mit der Möglichkeit einer späteren Erstattung zu bescheiden. Da bis zuletzt fraglich gewesen sei, ob die Kommission eine einstweilige Anordnung des EuGH beantragen würde, hätte mit dem Inkrafttreten des Gesetzes gerechnet und schon vorher vorbeugender vorläufiger Rechtsschutz begehrt werden müssen.
Das HZA verweist u. a. darauf, daß es für die Antragstellerinnen zumutbar gewesen sei, sich (ggf. personengebundene) Gebührenbescheinigungen zu beschaffen und die entsprechend geringen Kosten (für vier Monate hier 960 DM, für den Tag 13 DM) bis zu einer Erstattung vorzufinanzieren.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, Feststellung der Erledigung der Hauptsache und Auferlegung der Kosten auf das HZA.
1. Bei einseitiger Erledigungserklärung durch den Antragsteller beschränkt sich der Rechtsstreit auf die Erledigungsfrage (Senat, Beschlüsse vom 22. April 1986 VII B 140/85, BFH/NV 1987, 47, und vom 4. Juli 1986 VII B 134/85, BFHE 147, 110, BStBl II 1986, 752); nur dann, wenn der Antrag auf einstweilige Anordnung unzulässig war, könnte gelten, daß eine die Erledigung feststellende Entscheidung nicht ergehen darf (Senat, Beschluß vom 22. Januar 1985 VII B 38/84, BFH/NV 1986, 749). Einen Fall dieser Art hält das FG für gegeben, weil es ein Rechtsschutzinteresse für die Anträge verneint. Der Senat teilt diese Auffassung nicht.
Mit den Beteiligten und in Übereinstimmung mit dem FG geht der Senat davon aus, daß die Anträge auf Erlaß der (jeweils) begehrten einstweiligen Anordnung - § 114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) - auf die Gewährung vorläufigen vorbeugenden Rechtsschutzes abzielten. Ein entsprechendes Begehren (in der Hauptsache) ist, auch nach Ansicht des FG, nicht schlechthin unzulässig. Für eine vorbeugende Unterlassungsklage, wie sie - verbunden mit einer Klage auf Erteilung von näher bestimmten Bescheinigungen als sonstiger Leistung - hier in einem Hauptsacheverfahren in Betracht gekommen wäre, besteht ein Rechtsschutzinteresse, wenn zu besorgen ist, daß sonst vollendete, nicht ohne weiteres reparable Tatsachen oder Rechtsverhältnisse geschaffen werden, ein Abwarten nachträglichen Rechtsschutzes somit unzumutbar ist (Tipke / Kruse, AO/FGO, 13. Aufl., FGO, § 40 Tz. 5; vgl. auch Gräber / von Groll, FGO, 2. Aufl. 1987, § 40 Anm. 33). Ein besonderes Rechtsschutzinteresse dieser Art wäre allerdings zu verneinen, wenn die Antragstellerinnen durch Entrichtung der vorgesehenen Gebühren - etwa für entsprechend gewählte Entrichtungszeiträume (§ 5 StrBG) - die von ihnen befürchteten Nachteile hätten vermeiden können. In diesem Falle hätte ihnen zugemutet werden können, entsprechende Leistungsbescheide des HZA (§ 13 StrBG) abzuwarten und mit der Begründung, die innerstaatliche Gebührenregelung widerspreche vorrangigem Gemeinschaftsrecht, gegen die Gebührenerhebung vorzugehen. Im Streitfall ging es indessen nicht nur um die Vermeidung einer - möglichen - Untersagung der Weiterfahrt (nicht ,,Beschlagnahme") oder auch einer Ahndung wegen Ordnungswidrigkeit (§ 12 Abs. 3, § 14 StrBG). Der EuGH hat in seinem Beschluß in RIW 1990, 847 die Dringlichkeit der von ihm gegen die Bundesrepublik Deutschland erlassenen einstweiligen Anordnung mit der Erwägung bejaht (Absatz 38 und 39 der Gründe), grundsätzlich sei zwar ein finanzieller Schaden nicht als irreparabel anzusehen, doch könne dies in außergewöhnlichen Situationen anders sein, in denen ein Ersatz in Geld den Geschädigten nicht wieder in die Lage vor Eintritt des Schadens versetzen könne; so verhalte es sich möglicherweise hier, weil viele Verkehrsunternehmer der anderen Mitgliedstaaten durch die Gebührenerhebung zur Einstellung ihrer Tätigkeit gezwungen sein könnten; zudem könnten unumkehrbare Veränderungen bei der Verteilung der Marktanteile bewirkt werden. Aus dieser - zutreffenden - Bewertung ergibt sich, daß Gründe vorlagen, die das Rechtsschutzinteresse für einen vorbeugenden gerichtlichen Schutz gerechtfertigt hätten. Das Rechtsschutzbedürfnis im Anordnungsverfahren könnte mithin nicht aus dem Grunde verneint werden, daß ein entsprechendes Begehren in einem Hauptsacheverfahren unzulässig gewesen wäre (vgl. auch Gräber / Koch, a. a. O., § 114 Anm. 30).
Zweifel an der Zulässigkeit der Anträge ergeben sich auch nicht etwa deshalb, weil durch eine entsprechende einstweilige Anordnung eine endgültige Regelung vorweggenommen worden wäre. Abgesehen davon, daß die Hilfsanträge auf vorläufigen Rechtsschutz bis zur Entscheidung des EuGH über den Anordnungsantrag der Kommission, damit auf ein begrenztes Ziel, gerichtet waren, würden selbst hinsichtlich der weitergehenden Hauptanträge durchgreifende Bedenken nicht bestehen. Zwar ist eine vorwegnehmende Regelung im Anordnungsverfahren im allgemeinen ausgeschlossen, doch gelten Ausnahmen, wenn auf andere Weise ein wirksamer Rechtsschutz nicht zu gewährleisten ist und die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu besonders schwerwiegenden, nicht wiedergutzumachenden Nachteilen führt (z. B. Bundesfinanzhof, Beschluß vom 14. Januar 1987 II B 102/86, BFHE 148, 440, 443, BStBl II 1987, 269; Gräber / Koch, a. a. O., Anm. 68 m. w. N.). Diese Voraussetzungen für eine vorwegnehmende einstweilige Regelung waren hier gegeben, hinsichtlich der besonderen Nachteile aus den Gründen, mit denen der EuGH (a. a. O.) die Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung bejaht hat.
Zulässig waren hiernach nicht nur die in berechtigter Erwartung eines Vollzugs des StrBG gestellten Anträge der Antragstellerinnen zu 1 bis 4, die am . . . beim FG eingegangen waren, sondern auch der erst am . . . gestellte Antrag der Antragstellerin zu 5. Zum Zeitpunkt des zuletzt bezeichneten Antrags war zwar bereits der Beschluß des Präsidenten des EuGH (vom 28. Juni 1990 Rs. C 195/90-R, RIW 1990, 684) ergangen, nach dem die Bundesrepublik Deutschland die Erhebung der vorgesehenen Straßenbenutzungsgebühr . . . bis zum Abschluß des Verfahrens der einstweiligen Anordnung auszusetzen hatte. Aufgrund dieses rein ,,vorsorglich", ohne Berücksichtigung der noch nicht abgegebenen Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland und nur zur kurzfristigen Aufrechterhaltung der bestehenden Lage erlassenen Beschlusses konnte das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag der Antragstellerin zu 5 jedoch noch nicht verneint werden.
2. Wie auch das HZA nicht in Abrede stellt (Hilfsantrag), hat sich die Hauptsache tatsächlich erledigt, nachdem entsprechend der einstweiligen Anordnung des EuGH (RIW 1990, 847) die Erhebung der Straßenbenutzungsgebühren ausgesetzt wurde. Ob die Anträge ohne die eingetretene Erledigung auch begründet gewesen wären, ist unmaßgeblich und braucht nicht entschieden zu werden.
3. Da bei gegensätzlichen Hauptanträgen der Beteiligten - hier vorliegend - eine Sachentscheidung zu treffen ist, kann die nur hilfsweise Erledigungserklärung des HZA nicht zu einer isolierten Kostenentscheidung nach § 138 FGO führen. Ungeachtet der hilfsweisen Erledigungserklärung müssen die Kosten gemäß § 135 Abs. 1 FGO dem HZA auferlegt werden, das mit seinem auf Abweisung der Anträge gerichteten Begehren unterlegen ist (vgl. Gräber / Ruban, a. a. O., § 138 Anm. 14 a. E., Anm. 20 m. w. N.; Ziemer / Haarmann / Lohse / Beermann, Rechtschutz in Steuersachen, Tz. 10655/5). An der vom Senat früher vertretenen entgegengesetzten Auffassung (Beschluß vom 26. August 1980 VII S 15/70, BFHE 131, 285, BStBl II 1981, 37; offengelassen in BFH/NV 1987, 47, 49) wird nicht festgehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 423072 |
BFH/NV 1992, 398 |