Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Aussetzung des Klageverfahrens, wenn FA den Steuerbescheid hinsichtlich des Streitpunkts im Einspruchsverfahren für vorläufig erklärt hat
Leitsatz (amtlich)
Einer Klage, mit der der Steuerpflichtige erstmals die Verfassungswidrigkeit des Sonderausgabenhöchstbetrags (§ 10 Abs.3 EStG) rügt, fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn das FA bereits im Einspruchsverfahren den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen für vorläufig erklärt hat. Eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 74 FGO) kommt nicht in Betracht (Abgrenzung zum BFH-Beschluß vom 18.September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123).
Orientierungssatz
Die vom III. Senat des BFH im vorgenannten Beschluß für eine Aussetzung des Klageverfahrens trotz Vorläufigkeitserklärung für maßgeblich gehaltenen Gründe gelten nur, wenn der angefochtene Einkommensteuerbescheid nach Klageerhebung in den Streitpunkten für vorläufig erklärt worden ist.
Normenkette
EStG § 10 Abs. 3; FGO §§ 74, 40 Abs. 2; AO 1977 § 165 Abs. 1
Verfahrensgang
FG Nürnberg (Entscheidung vom 11.03.1993; Aktenzeichen VI 263/92) |
Tatbestand
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) veranlagte die
Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) für das Streitjahr 1989 erklärungsgemäß.
Die als Sonderausgaben geltend gemachten Versicherungsbeiträge (14 583 DM)
berücksichtigte das FA mit dem nach § 10 Abs.3 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) abziehbaren Höchstbetrag von 9 028 DM. Für die drei Kinder der Kläger
gewährte es jeweils einen Freibetrag von 2 484 DM. Der Einkommensteuerbescheid
war hinsichtlich der Kinderfreibeträge vorläufig.
Gegen den Einkommensteuerbescheid 1989 legten die Kläger vorsorglich Einspruch
ein, weil zweifelhaft sei, ob der Grundfreibetrag des Einkommensteuertarifs
verfassungsgemäß sei. Sie beantragten, das Verfahren ruhen zu lassen.
Das FA änderte daraufhin den Einkommensteuerbescheid nach § 172 Abs.1 Satz 1
Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) und erstreckte die Vorläufigkeit unter
anderem auch auf den Grundfreibetrag und die Vorsorgeaufwendungen. Im übrigen
wies es den Einspruch in den Erläuterungen zur Festsetzung als unbegründet
zurück. Es führte aus, die Steuerfestsetzung stehe im Einklang mit den
geltenden Gesetzen. Den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen bestimmte
Vorschriften sei dadurch Rechnung getragen worden, daß die Steuer insoweit
vorläufig festgesetzt worden sei.
Mit der Klage machten die Kläger geltend, bei der Einkommensteuerfestsetzung
würden ungewisse Besteuerungsgrundlagen zum Nachteil der Steuerbürger
berücksichtigt. Ziel des Rechtsbehelfs sei nicht die vorläufige
Steuerfestsetzung gewesen, weil damit die Verfassungswidrigkeit der
Vorschriften nicht anerkannt werde. Dem Antrag, das Verfahren nach § 363 AO
1977 auszusetzen, sei nicht entsprochen worden. Nach der Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) werde ein Rechtsbehelf durch Vorläufigkeitserklärung
nicht erledigt. Entgegen der Auffassung des FA lägen die Voraussetzungen für
ein Ruhen des Verfahrens vor. Die Klage richte sich auch gegen die beschränkte
Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der
Sonderausgabenhöchstbeträge seien beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig. Es werde daher beantragt, das
Verfahren nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen.
Durch Beschluß vom 11.März 1993 lehnte das Finanzgericht (FG) den Antrag auf
Aussetzung des Verfahrens ab. Es führte aus: Infolge der
Vorläufigkeitserklärung sei eine Aussetzung des Verfahrens nicht mehr geboten
und auch nicht zweckmäßig. Bei der nach § 74 FGO zu treffenden
Ermessensentscheidung seien die Interessen beider Beteiligten des
Klageverfahrens zu berücksichtigen. Gegenüber dem Interesse der
Verwaltungsbehörde an einer zeitgerechten Abwicklung des Rechtsmittels sei
kein wirkliches Interesse der Kläger an einem Offenhalten des Verfahrens mehr
erkennbar. Denn durch den Ausspruch der teilweisen Vorläufigkeit hinsichtlich
bestimmter Besteuerungsgrundlagen sei sichergestellt, daß die Kläger auch ohne
Weiterverfolgung des Rechtsmittels an einer möglichen künftigen gesetzlichen
Neuregelung teilhaben könnten.
Mit der Beschwerde tragen die Kläger vor: Das FA habe dem Antrag auf Ruhen des
Verfahrens nicht entsprochen, obwohl nach dem Schreiben des Bundesministeriums
der Finanzen (BMF) vom 19.Oktober 1992 (BStBl I 1992, 632) Einspruchsverfahren
gegen Steuerfestsetzungen, die noch nicht vorläufig ergangen seien, weiter
ruhen könnten. Die vom BFH (Beschluß vom 18.September 1992 III B 43/92, BFHE
169, 110, BStBl II 1993, 123) geforderten Voraussetzungen für eine Aussetzung
des Verfahrens seien im Streitfall erfüllt. Die Entscheidung des FG sei mit
diesen Grundsätzen nicht vereinbar.
Die Kläger beantragen, den Beschluß des FG aufzuheben und dem Antrag auf
Aussetzung des Verfahrens stattzugeben.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Zu Recht hat das FG den Antrag der Kläger auf Aussetzung des Verfahrens
abgelehnt.
Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Aussetzung des Klageverfahrens nach §
74 FGO geboten, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes
Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den
FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der
Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer
Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen
gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat
(BFH-Beschlüsse vom 7.Februar 1992 III B 24,25/91, BFHE 166, 418, BStBl II
1992, 408, und vom 27.November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II
1993, 240).
Trotz Vorliegens dieser Voraussetzungen ist das FG aber dann nicht zur
Aussetzung des Klageverfahrens verpflichtet, wenn das FA den angefochtenen
Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der verfassungsrechtlich umstrittenen
Punkte bereits vor Klageerhebung für vorläufig erklärt hat.
Im Streitfall haben die Kläger mit dem Einspruch nur die Verfassungswidrigkeit
des Grundfreibetrags gerügt und das Ruhen des Einspruchsverfahrens beantragt.
Das FA hat daraufhin die Einkommensteuer nicht nur hinsichtlich des
Grundfreibetrags, sondern auch hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen vorläufig
festgesetzt. Mit der Klage haben die Kläger erstmals die Verfassungswidrigkeit
des Sonderausgabenhöchstbetrags für Vorsorgeaufwendungen geltend gemacht und
deshalb die Aussetzung des Klageverfahrens beantragt, bis das BVerfG über die
hierzu anhängigen Verfassungsbeschwerden entschieden hat. Es geht ihnen also
ersichtlich nur darum, den Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig
werden zu lassen, um im Falle einer für sie positiven Entscheidung des BVerfG
und einer sich daran ggf. anschließenden gesetzlichen Neuregelung höhere
Vorsorgeaufwendungen als bisher abziehen zu können. Diesem Begehren trägt die
vorläufige Einkommensteuerfestsetzung in vollem Umfang Rechnung. Denn die
Festsetzungsfrist endet nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die
Ungewißheit, auf der die vorläufige Festsetzung beruht, beseitigt ist (§ 171
Abs.8 AO 1977), d.h. nicht vor einer Entscheidung des BVerfG oder dem
Inkrafttreten einer ggf. notwendig werdenden gesetzlichen Neuregelung.
Für die Klage fehlt somit das Rechtsschutzinteresse. Dieses kann nicht allein
darauf gestützt werden, daß im Falle einer Klageerhebung das Klagebegehren,
solange über die Klage noch nicht endgültig entschieden ist, erweitert werden
kann, wenn z.B. weitere verfassungsrechtliche Zweifel an bestimmten
steuerrechtlichen Vorschriften bekannt und weitere Verfassungsbeschwerden
deswegen erhoben werden. Das Klageverfahren hat zum Ziel, daß möglichst bald
das materiell-rechtlich richtige Ergebnis gefunden und endgültig über die
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids entschieden wird. Es
dient nicht dazu, einen Steuerbescheid möglichst lange offen zu halten, damit
der Kläger weitere Streitpunkte in das Verfahren einführen kann.
Im Schrifttum wird zur Rechtfertigung der Klageerhebung trotz
Vorläufigkeitserklärung geltend gemacht, die vorläufige Steuerfestsetzung
benachteilige den Steuerpflichtigen insoweit, als er das Risiko für eine
rechtzeitige Änderung des Einkommensteuerbescheids innerhalb eines Jahres nach
Beseitigung der Ungewißheit trage. Damit der vorläufige
Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig wird, sei der Steuerpflichtige
gezwungen, innerhalb der Jahresfrist einen Antrag an das FA auf Änderung nach
§ 165 Abs.2 AO 1977 zu stellen (Neufang, Die Information über Steuer und
Wirtschaft --Inf-- 1993, 65; Schneider, Inf 1992, 494). Auch dieser Einwand
kann aber ein Rechtsschutzinteresse für das auf Abschluß und endgültige
Klärung des Rechtsstreits angelegte Klageverfahren nicht begründen. Gleiches
gilt für das Rechtsschutzinteresse im Einspruchsverfahren. Es ist dem
Steuerpflichtigen oder seinem Steuerberater zumutbar, nach Beseitigung der
Ungewißheit einen Antrag auf Änderung des Bescheids zu stellen, um seine
Bestandskraft zu verhindern. Es ist nicht gerechtfertigt, deshalb die FG mit
Verfahren zu überschwemmen. Im übrigen ist die Finanzverwaltung angewiesen
(vgl. BMF-Schreiben vom 19.Oktober 1992, BStBl I 1992, 632), für den Fall, daß
der Bescheid nicht rechtzeitig innerhalb der Frist geändert wird, den
Steuerpflichtigen im Billigkeitsweg so zu stellen, als ob der Bescheid
innerhalb der Frist aufgehoben oder geändert worden wäre.
Im Streitfall ist die Klage somit mangels Rechtsschutzinteresse unzulässig. Da
sie wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung keinen Erfolg haben kann,
kommt eine Aussetzung des Klageverfahrens nicht in Betracht (vgl. BFH-Beschluß
vom 13.Dezember 1990 III B 519/90, BFH/NV 1991, 469). Ergänzend weist der
Senat darauf hin, daß eine Prüfung, ob der Einkommensteuerbescheid im Hinblick
auf verfassungsrechtliche Einwände rechtmäßig ist, auch dann nicht möglich
ist, wenn das FA den Einspruch als unzulässig verworfen hat, weil wegen der
vorläufigen Festsetzung das Rechtschutzinteresse fehlt. Die Klage ist dann
zwar nicht unzulässig, sondern unbegründet. Gleichwohl kann die Klage aber
keine Sachprüfung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids hinsichtlich der
Verfassungsmäßigkeit der Besteuerungsgrundlagen auslösen (vgl. BFH-Urteil vom
20.September 1989 X R 8/86, BFHE 158, 205, BStBl II 1990, 177), so daß das
Klageverfahren auch in diesen Fällen nicht auszusetzen ist.
Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von dem BFH-Beschluß in BFHE
169, 110, BStBl II 1993, 123 ab. Die vom III.Senat für eine Aussetzung des
Klageverfahrens trotz Vorläufigkeitserklärung für maßgeblich gehaltenen Gründe
gelten nur, wenn der angefochtene Einkommensteuerbescheid nach Klageerhebung
in den Streitpunkten für vorläufig erklärt worden ist. Ist die Einkommensteuer
dagegen bereits im erstmaligen Bescheid oder während des Einspruchsverfahrens
vorläufig festgesetzt worden, sind insbesondere die vom III.Senat angeführten
kostenrechtlichen Erwägungen unerheblich.
Fundstellen
Haufe-Index 64652 |
BStBl II 1994, 119 |
BFHE 172, 197 |
BFHE 1994, 197 |
BB 1994, 125 |
BB 1994, 125-126 (LT) |
BB 1994, 57 |
DB 1994, 412 (L) |
DStR 1994, 94 (KT) |
HFR 1994, 149 (LT) |
StE 1994, 5 (K) |
WPg 1994, 177-178 (S) |
StRK, R.55 (LT) |
FR 1994, 61 (KT) |
NJW 1994, 1303 |
NJW 1994, 1303-1304 (LT) |
Stbg 1994, 127 (KT) |
JuS 1994, 805 (L) |