Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtberücksichtigung eines Vortrags zur Bestimmung des Klageantrags
Leitsatz (NV)
Rechtsweggarantie und Gewährleistung rechtlichen Gehörs dienen dem Ziel, wirkungsvollen Rechtsschutz sicherzustellen.
Ein Klageantrag, der auf Aufhebung allein der Einspruchsentscheidung gerichtet ist, kann -- unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes effektiven Rechtsschutzes -- dann als sinnvoll angesehen werden, wenn anhand einer beigegebenen Begründung ersichtlich ist, daß die Einspruchsentscheidung aufgrund formeller Mängel gesondert aufgehoben werden soll. Ohne eine solche Begründung kann nicht sinnvollerweise von einem abschließenden Klageantrag ausgegangen werden. Die Nichtberücksichtigung eines Begründungsvortrags innerhalb einer vom Gericht gesetzten Ausschlußfrist aufgrund der Beurteilung, der Antrag sei -- aus sich heraus -- eindeutig, ist Versagung rechtlichen Gehörs.
Normenkette
FGO § 65 Abs. 1 S. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erhob mit Schriftsatz ihrer damaligen Prozeßbevollmächtigten vom 9. Oktober 1995 Klage "wegen Umsatzsteuer 1989 ... gegen die am 12. September 1995 zugestellte Einspruchsentscheidung des Finanzamts" und stellte "folgende Anträge:
1. die Einspruchsentscheidung vom 11. September 1995 aufzuheben;
2. dem Finanzamt die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen;
3. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären;
4. das Urteil wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären;
5. hilfsweise die Revision zuzulassen.
Begründung:
Die Begründung wird nachgereicht."
Mit Verfügung des Senatsvorsitzenden beim angerufenen Finanzgericht (FG) vom 19. Oktober 1995 wurde der Klägerin gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine Ausschlußfrist bis zum 16. November 1995 gesetzt zur Angabe des Gegenstands des Klagebegehrens, gleichzeitig wurde gemäß § 79 b Abs. 1 FGO eine Frist bis zum 16. November 1995 gesetzt zur Angabe derjenigen Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sich die Klägerin beschwert fühle. Die Verfügungen wurden der damaligen Prozeßbevollmächtigten am 30. Oktober 1995 durch Übergabe zugestellt.
Mit Telefax vom 15. November 1995 an das FG trug die Klägerin u. a. vor:
"Bei dem angefochtenen Verwaltungsakt handelt es sich um den Umsatzsteuerbescheid 1989 vom 2. 3. 1995, welcher von Herrn Steuerberater ... mit Einspruch vom 3. 4. 1995 angefochten wurde. Mit der Einspruchsentscheidung vom 11. September 1995 wurde der Einspruch von seiten des Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. Innerhalb dieses Umsatzsteuerbescheides 1989 hat der Beklagte unter anderem Vorsteuern aus einer Rechnung der Firma G ... vom 31. Dezember 1989 in Höhe von ... DM nicht als Vorsteuern anerkannt. Dies wurde nicht anerkannt mit der Begründung, daß es sich bei dieser Rechnung um eine Scheinrechnung handele und insofern die Vorsteuer nicht anzuerkennen wäre. Durch diese Nichtanerkennung der Vorsteuer aus der o. g. Rechnung ist die Klägerin beschwert und fühlt sich in ihren Rechten beeinträchtigt. Bei dem Gegenstand des Klagebegehrens handelt es sich darum, daß diese Vorsteuern anzuerkennen sind. Es ist von dem Beklagten ein neuer Umsatzsteuerbescheid 1989 unter Ansatz dieser zusätzlichen Vorsteuern zu erstellen. Eine Kopie der Rechnung liegt dem Beklagten vor."
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Januar 1996 wies das FG die Klage als unzulässig ab.
Mit ihrem Antrag auf mündliche Verhandlung trug die Klägerin vor, die Klage sei zulässig, Klageschrift und Schriftsatz vom 15. November 1995 genügten den Anforderungen der §§ 40 und 65 FGO. Soweit nach dem Wortlaut der Klageschrift vom 9. Oktober 1995 zunächst lediglich die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beantragt worden sei, habe das Gericht den Ausführungen des Schreibens vom 15. November 1995 entnehmen können, daß die Anfechtungsklage auch gegen den zugrundeliegenden Verwaltungsakt gerichtet gewesen sei.
Auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 1996 wies das FG die Klage als unzulässig ab. Der Klageantrag vom 9. Oktober 1995 sei auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichtet gewesen. Zwar handele es sich bei dem Erfordernis nach § 65 Abs. 1 Satz 2 FGO, die Klage solle einen bestimmten Antrag enthalten, lediglich um eine Sollvorschrift. Vorliegend habe der bestimmte Antrag aber das Klagebegehren präzisiert. Über diesen Antrag dürfe das Gericht nicht hinausgehen (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO). Insbesondere sei außerhalb des durch Antrag und Begründung aufgestellten Prozeßprogramms die Aufklärungspflicht des Gerichts nur noch eine extensive (Hinweis auf Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 65 FGO Tz. 5). Nach allge meiner Auffassung seien auslegungsfähige Anträge im Zweifel so zu interpretieren, daß das Ergebnis, insbesondere unter Berücksichtigung des Akteninhalts, dem Willen eines verständigen Klägers entspreche. Der in der Klageschrift vom 9. Oktober 1995 gestellte Klageantrag sei vorwiegend deshalb nicht auslegungsfähig, weil die Klägerin mit der Erstellung der Klageschrift eine Steuerberatungsgesellschaft beauftragt habe. Dieser (damaligen) Prozeßbevollmächtigten habe klar sein müssen, daß Ausgangs- und Rechtsbehelfsbescheid keine Einheit seien. Dementsprechend bestimme § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO, daß die Anfechtungsklage u. a. den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen müsse. Die spätere Erweiterung des Klageantrags durch Einbeziehung des Umsatzsteuerbescheids habe die Klage nicht in die Zulässigkeit hineinwachsen lassen. Es handle sich nicht um eine Klageänderung, sondern um die Erhebung einer neuen (weiteren) Klage außerhalb der Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO. Wiedereinsetzung sei insoweit nicht zu gewähren.
Mit der Beschwerde beantragt die Klägerin Zulassung der Revision, weil die angefochtene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhe. Das FG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --).
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) tritt der Beschwerde entgegen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Die Revision war wegen Verfahrensmangels zuzulassen.
Die Klägerin hat hinreichend Tatsachen dafür vorgetragen, daß die Entscheidung des FG auf dem von ihr gerügten Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. Abs. 3 Satz 3 FGO).
Mit der Abweisung der Klage als unzulässig (Prozeßurteil) hat das FG den Vortrag der Klägerin zur Beschreibung ihres Klagebegehrens mit dem Telefax (Schreiben) vom 15. November 1995, das innerhalb der vom Senatsvorsitzenden gesetzten Ausschlußfrist eingegangen war, nicht berücksichtigt. Das FG führt in den Entscheidungsgründen aus, für die Bestimmung des Klagebegehrens sei nur die Klageschrift vom 9. Oktober 1995 maßgeblich gewesen. Diese habe einen eindeutig auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichteten Antrag enthalten. Dieser Antrag sei nicht auslegungsfähig, weil die Klägerin mit seiner Erstellung eine Steuerberatungsgesellschaft beauftragt habe.
Abgesehen davon, daß aus den Entscheidungsgründen nicht ersichtlich ist, aus welchen Gründen der vom FG als bindend angesehene Klageantrag zur Unzulässigkeit der Klage geführt haben soll, erweist sich das Vorgehen des FG mit der Begründung, die Einbeziehung des Umsatzsteuerbescheids 1989 durch das Schreiben vom 15. November 1995 mit dem dazugehörenden Vortrag habe die Klage nicht in die Zulässigkeit hineinwachsen lassen und es handle sich um die Erhebung einer neuen Klage außerhalb der Klagefrist, als Versagung des rechtlichen Gehörs der Klägerin.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- (vgl. Beschluß vom 29. November 1989 1 BvR 1011/88, BVerfGE 81, 123, 129, m. N.) darf der Zugang zum Gericht nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Nicht nur zu Art. 19 Abs. 4 GG, sondern auch zu Art. 103 Abs. 1 GG hat das BVerfG entschieden, daß das einfache Recht und seine Anwendung im Einzelfall von Verfassungs wegen ein Ausmaß an Gehör eröffnen müssen, das sachangemessen ist, um dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden. Sowohl die Rechtsweggarantie als auch die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs dienen jeweils dem gleichen Ziel, nämlich der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes. Das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes gilt nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht, sondern auch für das Recht, im Verfahren gehört zu werden.
Dem widerspricht das rein formale Vorgehen des FG mit der überdies nicht schlüssig formulierten Urteilsbegründung. Die Klägerin hat zu Recht gerügt, daß § 65 Abs. 1 Satz 2 FGO das Erfordernis eines bestimmten Antrags nur als Sollerfordernis formuliert. Zusätzlich hat sie zutreffend vorgetragen, daß das formelhafte Abstellen des FG auf den mit Klageschrift vom 9. Oktober 1995 -- noch ohne Begründung, sondern mit dem Hinweis auf eine nachfolgende Begründung -- gestellten Klageantrag (Aufhebung der Einspruchsentscheidung) von den Begründungsausführungen nicht getragen wird. Das FG hat unter Hinweis auf Tipke/Kruse (a. a. O., § 65 FGO Tz. 5) ausgeführt, daß "außerhalb des durch Antrag und Begründung aufgestellten Prozeßprogramms die Aufklärungspflicht des Gerichts nur noch eine extensive" sei. Im Streitfall lag jedoch lediglich ein Antrag und keine Begründung vor, aufgrund der das FG von einem eindeutigen (und nicht weiter auslegbaren) Klageantrag auf Aufhebung nur der Einspruchsentscheidung hätte ausgehen dürfen.
Ein Klageantrag, der auf Aufhebung allein der Einspruchsentscheidung gerichtet ist, kann -- unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes effektiven Rechtsschutzes -- dann als sinnvoll angesehen werden, wenn anhand einer beigegebenen Begründung ersichtlich ist, daß die Einspruchsentscheidung aufgrund formeller Mängel gesondert aufgehoben werden soll (vgl. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31. Mai 1978 I 52/78, Entscheidungen der Finanzgerichte 1978, 606). Ohne eine solche Begründung (wie im Streitfall) kann nicht sinnvollerweise von einem abschließenden Klageantrag ausgegangen werden. Überdies mußte die Klägerin die Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 19. Oktober 1995, die weitere Angaben zum Gegenstand des Klagebegehrens und zur Beschwer anforderte, so verstehen, daß das Gericht aufgrund seiner prozessualen Fürsorgepflicht eine weitere Konkretisierung des Begehrens zur gerichtlichen Durchsetzung eines behaupteten materiellen Rechts der Klägerin verlangen wollte.
Demgegenüber läßt das angefochtene Urteil unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse im Hinblick auf die Rechtsverfolgung durch die Klägerin erkennen.
Fundstellen