Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Kindergeld nach Wegzug in das EU-Ausland
Leitsatz (NV)
Die Anknüpfung der Kindergeldberechtigung an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) verstößt nicht gegen Europarecht.
Normenkette
EGVtr Art. 18, 43, 234; EStG § 62 Abs. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-2
Verfahrensgang
FG Köln (Urteil vom 06.12.2007; Aktenzeichen 10 K 2171/07) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist Mutter von vier Kindern. Sie hält sich in Portugal auf, wo sie eine Pension betreibt und wo die Kinder zur Schule gehen. In der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) hat sie keine eigene Wohnung. Gegenüber der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) gab sie jedoch an, sie wohne im Haushalt ihrer Eltern in A.
Nachdem die Familienkasse davon erfahren hatte, dass die Klägerin seit Jahren weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik hatte, hob sie durch Bescheid vom 19. Juli 2006 die Festsetzung von Kindergeld für die Zeit von Januar 1996 bis Juni 2004 auf und forderte einen Betrag von 60 706 € zurück. Außerdem lehnte sie die Gewährung von Kindergeld ab Juli 2004 ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte u.a. aus, das Innehaben einer Wohnung bei der Mutter sei bereits aus tatsächlichen Gründen zweifelhaft. Die Wohnung sei nicht geeignet gewesen, der Klägerin und ihren vier Kindern ein Heim zu bieten. Es könne nicht festgestellt werden, dass diese Wohnung regelmäßig aufgesucht worden sei. Der Lebensmittelpunkt der Klägerin habe sich in Portugal befunden. Auch aus dem Europarecht sei kein Anspruch auf Kindergeld abzuleiten. Der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt eines Kindergeldberechtigten oder seine unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 und 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) seien zulässige Abgrenzungskriterien.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) sowie einen Verfahrensmangel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Zu klären sei die Rechtsfrage, ob die Beschränkung der Anspruchsberechtigung in § 62 Abs. 1 EStG auf Personen, die im Inland ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten, die nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt steuerpflichtig seien oder nach § 1 Abs. 3 EStG als solche behandelt würden, gegen höherrangiges Recht der Europäischen Gemeinschaft verstoße, insbesondere gegen das Recht auf Aufenthaltsfreiheit (Art. 18 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der nach dem 1. Mai 1999 geltenden Fassung --EGV--), auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 EGV) sowie gegen das Recht auf Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV). Die Frage sei höchstrichterlich noch nicht entschieden worden. Für Deutsche, die sich im EU-Ausland niederlassen wollten, werde die Entscheidung, in einem Mitgliedstaat zu leben, durch § 62 EStG erschwert. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) habe gerade in jüngsten Entscheidungen festgestellt, dass staatliche Leistungen und Vergünstigungen nicht davon abhängig gemacht werden dürften, dass der Anspruchsberechtigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland habe. So habe der EuGH im Urteil vom 23. Oktober 2007 Rs. C-11/06, C-12/06, Morgan, Bucher (Slg. 2007, I-9161) es als unvereinbar mit höherrangigem Europarecht angesehen, dass der Bezug von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) u.a. zur Voraussetzung gehabt habe, dass einem Ausbildungsabschnitt im EU-Ausland eine mindestens einjährige Ausbildung im Inland vorangegangen sei. In den Urteilen vom 11. September 2007 Rs. C-76/05, Schwarz und Gootjes-Schwarz (Slg. 2007, I-6849) und Rs. C-318/05, Kommission/Deutschland (Slg. 2007, I-6957) habe der EuGH die Abzugsbeschränkung von Schulgeldzahlungen auf inländische Schulen nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG als unvereinbar mit EU-Recht beurteilt. Nach dem Urteil vom 18. Dezember 2007 Rs. C-396/05, C-419/05, C-450/05, Habelt, Möser, Wachter (Slg. 2007, I-11895) dürften bei der Rentenberechnung außerhalb der Bundesrepublik zurückgelegte Beitragszeiten nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil der Rentenempfänger nicht in der Bundesrepublik wohne. Auch die Beschränkung von Leistungen der flämischen Pflegeversicherung auf Personen mit Wohnsitz im entsprechenden Sprachgebiet sei nicht zulässig (Urteil des EuGH vom 1. April 2008 Rs. C-212/06, Communauté française, Gouvernement wallon/ Gouvernement flamand, Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht --EuroAS-- 2008, 77). Ein anerkennenswertes Interesse an einer Beschränkung der Grundfreiheiten sei nicht ersichtlich. Das Allgemeininteresse könne nicht darin liegen, den Kreis der Anspruchsberechtigten auf die im Inland ansässigen Personen zu beschränken. Es liege im Allgemeininteresse, Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit zu unterstützen, gleichgültig, ob sie im Inland oder im Europäischen Ausland wohnten.
Als Verfahrensmangel sei zu rügen, dass das FG es unterlassen habe, dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit von § 62 Abs. 1 EStG mit Europarecht vorzulegen. Wegen der Nichtzulassung der Revision habe das FG faktisch als letztinstanzliches Gericht entschieden, so dass eine Vorlagepflicht nach Art. 234 EGV bestanden habe.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Die von der Klägerin vorgetragenen Zulassungsgründe liegen nicht vor.
1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und erfordert auch keine Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts. Der Zulassungsgrund der Fortbildung stellt einen Unterfall der grundsätzlichen Bedeutung dar. In beiden Fällen muss es sich um eine klärungsbedürftige und klärbare Rechtsfrage handeln (z.B. Senatsbeschluss vom 6. Juni 2006 III B 202/05, BFH/NV 2006, 1653).
2. Es ist offenkundig und damit nicht klärungsbedürftig, dass die Anknüpfung der Kindergeldberechtigung in § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den Fällen, in denen der Kindergeldberechtigte mit seiner Familie den Wohnsitz in das EU-Ausland verlegt, nicht gegen die von der Klägerin genannten Art. 18 EGV, Art. 39 EGV und Art. 43 EGV verstößt.
a) Bestimmungen, die einen Angehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, seinen Herkunftsstaat zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 18 EGV Gebrauch zu machen, können zwar Beeinträchtigungen dieser Freiheit sein (vgl. EuGH-Urteil vom 17. Januar 2008 Rs. C-152/05, Kommission/Deutschland, BFH/NV 2008, Beilage 2, 90 Rdnr. 22). Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH können jedoch nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (vgl. EuGH-Urteil Kommission/Deutschland in BFH/NV 2008, Beilage 2, 90 Rdnr. 26). Ein Mitgliedsstaat kann die Gewährung von Sozialleistungen u.a. von einem tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Person und dem Staat abhängig machen, gegen den sich der Anspruch richtet (vgl. EuGH-Urteile vom 11. Juli 2002 Rs. C-224/98, D'Hoop, Slg. 2002, I-6191 Rdnr. 38, und vom 23. März 2004, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rdnr. 67). Die Bundesrepublik hatte daher die Möglichkeit, die Kindergeldberechtigung deutscher Staatsangehöriger auf den Personenkreis des § 62 Abs. 1 EStG zu beschränken.
b) Aus den von der Klägerin zitierten Entscheidungen des EuGH, die nach ihrer Ansicht dafür sprechen sollen, dass eine Versagung des Kindergeldes im Streitfall europarechtlich nicht zulässig sei, ergibt sich nichts anderes.
aa) In der EuGH-Entscheidung Morgan, Bucher in Slg. 2007, I-9161 sah es der EuGH als mit Art. 17 EGV und Art. 18 EGV unvereinbar an, dass ein Auszubildender, der Ausbildungsförderung für eine Ausbildung in einem anderen Mitgliedsstaat beantragte, die Förderung nur dann erhielt, wenn die Ausbildung im Ausland die Fortsetzung einer im Inland absolvierten mindestens einjährigen Ausbildung darstellte (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 BAföG a.F.). Eine Person, die sich zum Zwecke der Ausbildung in das Ausland begibt, behält nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BAföG ihren ständigen Wohnsitz im Inland bei und hat unter den weiteren Voraussetzungen des § 5 BAföG Anspruch auf Förderung. Die EuGH-Entscheidung Morgan, Bucher in Slg. 2007, I-9161 betrifft somit keinen Fall der Wohnsitzverlegung in das EU-Ausland. Ihr lassen sich keine Grundsätze entnehmen, die die Rechtsansicht der Klägerin stützen könnten.
bb) Ebenso wenig lässt sich aus den EuGH-Urteilen Schwarz, Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849 sowie Kommission/ Deutschland in Slg. 2007, I-6957 ein Anspruch der Klägerin auf Kindergeld ableiten. Aus den zitierten Entscheidungen geht hervor, dass die Beschränkung des Abzugs von Schulgeldzahlungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG auf bestimmte Schulen im Inland gegen Art. 49 EGV oder gegen Art. 18 EGV verstößt, gegebenenfalls auch gegen Art. 39 EGV und gegen Art. 43 EGV. Die vom EuGH entschiedenen Fälle betreffen eine Sachverhaltskonstellation, in der sich ein Kind zu Ausbildungszwecken in das EU-Ausland begibt, während die Eltern im Inland verbleiben und dort weiterhin unbeschränkt steuerpflichtig sind. Im Streitfall ist hingegen die Klägerin zusammen mit den Kindern in das EU-Ausland verzogen, so dass kein Wohnsitz im Inland mehr bestand. Ein für die Gewährung von Kindergeld maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist damit entfallen. Die beiden genannten EuGH-Urteile enthalten somit keinen Anhaltspunkt für den Rechtssatz, dass Kindergeld auch nach Wegzug einer Familie in das EU-Ausland zu gewähren ist.
cc) Auch aus der EuGH-Entscheidung Habelt, Möser, Wachter in Slg. 2007, I-11895 ergeben sich keine für die Klägerin günstigen Schlussfolgerungen. Das Urteil befasst sich mit der Rechtsfrage, ob der inländische Wohnsitz eine Tatbestandsvoraussetzung für den Bezug einer Altersrente sein kann. Angesprochen ist die sog. Exportierbarkeit von Leistungen der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer (Art. 42 EGV). Ein derartiger Sachverhalt ist im Streitfall nicht zu beurteilen.
dd) Das von der Klägerin angeführte EuGH-Urteil Communauté française und Gouvernement wallon/Gouvernement flamand in EuroAS 2008, 77 betrifft die Frage, ob die Gewährung von Leistungen der flämischen Pflegeversicherung u.a. davon abhängig gemacht werden darf, dass der Leistungsempfänger nicht in bestimmten Regionen Belgiens wohnt. Der EuGH sah in der Beschränkung einen Verstoß gegen Art. 39 EGV und gegen Art. 43 EGV. Auch aus dieser Entscheidung ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Weiterzahlung von Kindergeld im Streitfall europarechtlich geboten ist.
3. Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel, das FG habe Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt, weil es kein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EGV an den EuGH gerichtet habe, liegt schon deshalb nicht vor, weil das FG als Instanzgericht hierzu nicht verpflichtet war (Senatsbeschluss vom 29. November 2007 III S 30/06 (PKH), BFH/NV 2008, 777, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 2108011 |
BFH/NV 2009, 380 |