Entscheidungsstichwort (Thema)
Akteneinsicht; Kindergeld
Leitsatz (NV)
Auch in Kindergeldsachen besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Akteneinsicht im Büro des Prozeßbevollmächtigten.
Normenkette
FGO § 78
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) beantragte im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen einen Kindergeldbescheid, die beim Finanzgericht (FG) anhängig ist, die Akten des Beklagten und Beschwerdegegners (Arbeitsamt X -- Familienkasse --) beizuziehen und ihm zur kurzfristigen Einsichtnahme in der Kanzlei in Y zu übersenden.
Das FG lehnte den Antrag mit dem angefochtenen Beschluß ab. Zur Begründung führte es aus, der Vorsitzende des Senats habe angeregt, sich zwecks Akteneinsicht mit dem beklagten Arbeitsamt in Verbindung zu setzen. Dies habe der Prozeßbevollmächtigte unter Hinweis auf die starke Arbeitsbelastung abgelehnt und weiterhin Übersendung der Akten zur Einsichtnahme in der Kanzlei beantragt. Der Antrag sei unbegründet, weil im finanzgerichtlichen Verfahren grundsätzlich keine Aktenüberlassung in die Geschäftsräume des Prozeßbevollmächtigten erfolgen könne.
Dagegen wendet sich der Kläger mit der Beschwerde. Vor der Zuweisung der Kindergeldverfahren an die Finanzgerichtsbarkeit habe ohne weiteres die Möglichkeit bestanden, durch Übersendung der Kindergeldakten durch das zuständige Sozialgericht an den Bevollmächtigten Akteneinsicht zu nehmen. Die Gewährung von Akteneinsicht mit der Möglichkeit, die Verwaltungsakte zu fotokopieren, sei für den Beschwerdeführer unerläßlich, da zur Klagebegründung zwingend erforderlich.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist nicht durch §128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgeschlossen. Denn die Entscheidung über die Art und Weise von Akteneinsicht stellt keine prozeßleitende Verfügung im Sinne dieser Vorschrift dar (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs -- BFH --, vgl. Beschluß vom 9. November 1995 XI B 174, 175/95, BFH/NV 1996, 415, m. N.).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Nach §78 Abs. 1 Satz 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Danach besteht ein Anspruch auf Einsichtnahme der Akten in der Geschäftsstelle des mit der Streitsache befaßten Senats. Die Entscheidung über eine Versendung der Akten zum Zweck der Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist hingegen eine Ermessensentscheidung. Hinsichtlich dieser Ermessensentscheidung ist der BFH als Beschwerdegericht Tatsacheninstanz und deshalb gehalten, eigenes Ermessen auszuüben. Bei dieser Entscheidung sind sowohl der in §78 Abs. 1 Satz 1 FGO gesteckte Ermessensrahmen zu beachten als auch die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen (vgl. BFH- Beschluß vom 11. Juni 1997 XI B 109/95, BFH/NV 1997, 879, m. N.). Bei Ausübung seines Ermessens gelangt der Senat zu dem Ergebnis, daß die beantragte Versendung der Akten zur Akteneinsicht in die Kanzleiräume des Prozeßbevollmächtigten nicht geboten ist.
Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Einsicht in die Prozeßakten -- vor allem wegen der Gefahr des Verlustes der Akten und im Interesse einer ständigen Verfügbarkeit -- im Regelfall bei Gericht zu gewähren. Die dadurch bedingten "normalen" Unbequemlichkeiten und der Zeitverlust müssen grundsätzlich hingenommen werden. Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sie aber auf Sonderfälle. Die teilweise abweichende rechtliche Regelung und Verfahrenspraxis zur Akteneinsicht in anderen Gerichtszweigen -- insbesondere gemäß §147 Abs. 4 der Strafprozeßordnung und §100 Abs. 2 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung -- ist für die Ermessensausübung auf der Rechtsgrundlage des §78 Abs. 1 Satz 1 FGO ohne rechtliche Bedeutung (vgl. BFH- Beschluß vom 22. April 1997 X B 62/97, BFH/NV 1997, 787).
Im Streitfall bestehen keine Besonderheiten, die es rechtfertigen könnten, Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozeßbevollmächtigten zu gewähren. Wie sich aus der Einspruchsentscheidung des beklagten Arbeitsamts vom 18. Dezember 1997 ergibt, geht der Rechtsstreit lediglich darum, ob die Tochter im Kalenderjahr 1996 über Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von mehr als 12 000 DM verfügte und wie hoch ihre Werbungskosten waren. Das FG hat außerdem zu Recht darauf hingewiesen, daß die Akteneinsicht bei einem Amtsgericht oder in den Räumen des beklagten Arbeitsamts möglich und zumutbar ist.
Daß es sich im Streitfall nicht um einen "normalen" finanzgerichtlichen Prozeß um Steuerfragen, sondern um Kindergeldfragen handelt, rechtfertigt keine abweichende Entscheidung. Das Kindergeld wird ab 1996 als Steuervergütung gezahlt (§31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes i. d. F. des Jahressteuergesetzes 1986). Es finden deshalb nach §155 Abs. 6 der Abgabenordnung (AO 1977) die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften sinngemäß Anwendung. Die Ausgestaltung des Kindergeldanspruchs als Steuervergütung führt dazu, daß auch die Vorschriften des finanzgerichtlichen Verfahrens, also auch §78 Abs. 1 Satz 1 FGO, anwendbar sind. Es besteht kein Grund, Behördenakten in Kindergeldsachen bezüglich der Akteneinsicht anders zu behandeln als Steuerakten. Weder der Umfang von Kindergeldakten noch die räumliche Entfernung zum FG sind bei Kindergeldakten grundsätzlich anders als bei Steuerakten. Auch die Gefahr des Verlustes von Behördenakten und Gerichtsakten, die eine restriktive Auslegung des §78 Abs. 1 Satz 1 FGO rechtfertigen, ist bei Kindergeldakten nicht geringer als bei Steuerakten.
Fundstellen
Haufe-Index 154409 |
BFH/NV 1999, 649 |