Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs; Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Die Erörterung der entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und die Gelegenheit zur Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung genügt stets den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Gewährung rechtlichen Gehörs. Ein Anspruch auf Gewährung einer weiteren Frist zur schriftlichen Stellungnahme nach der mündlichen Verhandlung besteht grundsätzlich nicht.
2. Das FG darf die Verfahrensbeteiligten mit seiner Entscheidung zwar nicht überraschen; eine Überraschungsentscheidung liegt aber nicht schon dann vor, wenn das Gericht in seiner Entscheidung Gesichtspunkte als maßgeblich herausstellt, die bisher nicht im Vordergrund standen. Die ‐ fachkundigen ‐ Prozessparteien müssen grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einrichten.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
FG Hamburg (Urteil vom 06.01.2006; Aktenzeichen III 377/04) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog für seinen am … Februar 1987 geborenen Sohn Z und seine am … August 1988 geborene Tochter X Kindergeld.
Beide Kinder lebten in der Zeit von Oktober 2002 bis einschließlich März 2004 bei der geschiedenen Ehefrau des Klägers in A.
In dem vom Kläger gestellten Antrag auf Kindergeld vom 19. Januar 2003 führte der Kläger als seine Kinder neben Z und X noch seine Söhne T (geb. am … April 1992) und U (geb. am … März 1994) auf. In dem entsprechenden Formular (KG 1-Stand 1/2001) gab der Kläger unter Ziffer 5 an, dass die Kinder Z und X aus einer geschiedenen Ehe stammten und teilte die erbetene Anschrift des anderen Elternteils, nämlich der leiblichen Mutter der Kinder, mit. Die unter Ziffer 6 gestellte Frage, ob der Kläger in seinem Antrag Kinder aufgeführt habe, die außerhalb seines Haushalts lebten, beantwortete der Kläger nicht.
Auf Nachfrage der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) teilte der frühere Arbeitgeber des Klägers --unzutreffend-- mit, der Kläger habe bis einschließlich 30. September 2002 für alle vier von ihm im Antrag genannten Kinder Kindergeld bekommen. Tatsächlich hatte der Kläger bis dahin für Z und X kein Kindergeld erhalten, sondern die von ihm geschiedene Ehefrau, bei der sie lebten. Daraufhin gewährte die Familienkasse dem Kläger Kindergeld für alle vier Kinder.
Infolge eines Datenabgleichs mit der Meldebehörde erfuhr die Familienkasse im Februar 2004, das Z und X unter der Anschrift des Klägers nicht zu ermitteln waren. Die Familienkasse stellte daraufhin die Kindergeldzahlung für diese beiden Kinder zum März 2004 ein. Mit Bescheid vom 3. Juni 2004 hob sie die Gewährung des Kindergeldes für Z und X für die Zeit vom Oktober 2002 bis März 2004 auf und forderte das für diesen Zeitraum ausbezahlte Kindergeld in Höhe von 5 544 € nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) vom Kläger zurück.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung rechtlichen Gehörs i.S. von § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) als Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
Das Finanzgericht (FG) habe erstmals in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, der Kindergeldantrag des Klägers enthalte keine Angaben dazu, in welchem Haushalt Z und X gelebt hätten. Ferner habe sich das FG erstmals in den Entscheidungsgründen seines Urteils dahin gehend geäußert, dass die Familienkasse sich auch nicht aus anderen Quellen Kenntnis über den tatsächlichen Wohnort der Kinder Z und X hätte verschaffen müssen. Entsprechend der unrichtigen Auskunft des bisherigen Arbeitgebers des Klägers hätte es nahe gelegen, dass die Kinder beim Kläger gelebt hätten. Das FG habe erstmals in den Entscheidungsgründen seines Urteils die Meinung vertreten, dass die Familienkasse keine weiteren Ermittlungen hätte durchführen müssen.
Der Kläger habe keine ausreichende Gelegenheit gehabt, sich zu diesen Auffassungen des Gerichts zu äußern. Dies wäre etwa durch Gewährung einer Schriftsatznachlassfrist von 14 Tagen nach der mündlichen Verhandlung möglich gewesen. Hätte der Kläger rechtzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt, hätte er darauf verwiesen, dass die Familienkasse die zutreffenden Tatsachen aufgrund der Angaben des Klägers auf dem Formularantrag zum Kindergeld hätte erkennen müssen. Die Mitarbeiter der Familienkasse hätten wahrnehmen müssen, dass eine Ziffer des Formulars nicht ausgefüllt gewesen sei. Im Zweifel hätten sie beim Kläger nachfragen müssen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 132 FGO).
1. Der vom Kläger gerügte Verfahrensverstoß der Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist nicht gegeben. Insbesondere stellt das Urteil auch keine sog. Überraschungsentscheidung dar.
a) Soweit der Kläger sich darauf beruft, das FG habe erstmals in der mündlichen Verhandlung die Auffassung geäußert, der Antrag auf Gewährung von Kindergeld enthalte keine Angaben darüber, in welchem Haushalt die Kinder Z und X gelebt hätten, ist schon deshalb keine Verletzung rechtlichen Gehörs gegeben, weil das FG diesen Gesichtspunkt mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erörtert hat.
Die Erörterung der entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und die Gelegenheit zur Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung genügt entgegen der Auffassung des Klägers stets den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 9. Mai 2005 VI B 187/04, BFH/NV 2005, 1364). Ein Anspruch auf Gewährung einer weiteren Frist zur schriftlichen Stellungnahme nach der mündlichen Verhandlung besteht grundsätzlich nicht, zumal es im Streitfall auch um die Auswertung einer schriftlichen Unterlage ging, die beiden Beteiligten schon lange vor der mündlichen Verhandlung, nämlich bereits seit Verfahrensbeginn, vorgelegen hatte.
b) Das FG darf die Verfahrensbeteiligten mit seiner Entscheidung zwar nicht überraschen; eine Überraschungsentscheidung liegt aber nicht schon dann vor, wenn das Gericht in seiner Entscheidung Gesichtspunkte als maßgeblich herausstellt, die bisher nicht im Vordergrund standen. Die --fachkundigen-- Prozessparteien müssen grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einrichten (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 8. April 2005 IV B 105/03, BFH/NV 2005, 1355, m.w.N.).
Im Streitfall war in erster Linie die Rechtsfrage zu klären, ob die Familienkasse berechtigt war, die Kindergeldfestsetzung hinsichtlich der Kinder Z und X nach Maßgabe von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich aufzuheben. In diesem Zusammenhang war auch zu entscheiden, ob die Familienkasse wegen des unvollständig ausgefüllten Antrags des Klägers verpflichtet war, zusätzlich zu der Nachfrage beim ehemaligen Arbeitgeber des Klägers von Amts wegen weitere Ermittlungen durchzuführen. Denn nach ständiger Rechtsprechung kann ein Verstoß gegen Treu und Glauben gegeben sein, wenn die Verwaltung einen Bescheid aufhebt oder ändert, weil ihr nachträglich Tatsachen bekannt geworden sind, die sie bei gehöriger Erfüllung der ihr obliegenden Ermittlungspflicht schon vor der Steuerfestsetzung --im Streitfall vor der Festsetzung des Kindergeldes-- hätte feststellen können (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 14. Mai 1998 VII R 139/97, BFHE 185, 520, BStBl II 1998, 579).
Angesichts der Tatsache, dass der Kläger bereits einen unvollständig ausgefüllten Antrag auf Gewährung von Kindergeld eingereicht hatte, was ihm und seinem fachkundigen Prozessvertreter bekannt war, hätte dieser zur nun auftretenden entscheidungserheblichen Rechtsfrage weiterer etwaiger Ermittlungspflichten der Familienkasse in der mündlichen Verhandlung Stellung nehmen können und aus seiner Sicht auch sollen. Eines weiteren Hinweises des FG zur aufgeworfenen Problemstellung bedurfte es nicht.
2. Soweit der Kläger mit seinem Schriftsatz vom 17. Juni 2006 darüber hinaus die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO geltend macht, ist die Beschwerde bereits unzulässig, weil diese Rüge erst nach dem Ablauf der zweimonatigen Beschwerdebegründungsfrist (§ 116 Abs. 1 Satz 1 FGO) am 18. April 2006 erhoben wurde.
3. Mit seinen Ausführungen rügt der Kläger im Kern eine fehlerhafte Rechtsanwendung des FG. Dies vermag die Zulassung der Revision nach ständiger Rechtsprechung nicht zu rechtfertigen. Für einen schwerwiegenden Fehler, der nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO die Revision eröffnen könnte (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2003 III B 15/03, BFH/NV 2004, 166, m.w.N.), bietet die Beschwerdebegründung keine Anhaltspunkte.
Fundstellen