Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Anspruch auf Ablichtung der vollständigen Gerichts- und Verwaltungsakten; rechtsmissbräuchliches Ablichtungsverlangen; Zurückverweisung einer Sache im Beschwerdeverfahren
Leitsatz (NV)
1. Das Recht auf Akteneinsicht (einschließlich des Rechts auf Überlassung von Unterlagen) als Ausfluss des Rechts auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Informationsgewinnung als Voraussetzung für eine sachangemessene Äußerung. Das Akteneinsichtsrecht sichert auch die Ausgewogenheit des Zugangs zum Gericht und in diesem Sinne prozessuale Waffengleichheit.
2. Ein Beteiligter hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Ablichtung der gesamten Gerichts- und Verwaltungsakten.
3. Zur missbräuchlichen Ausübung des Rechts auf Überlassung von Unterlagen.
4. Die Zurückverweisung einer Sache ist auch im Beschwerdeverfahren zulässig.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 2, § 132; VwGO § 100 Abs. 2 S. 1; ZPO § 299 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Sächsisches FG (Beschluss vom 17.10.2006; Aktenzeichen 6 K 160/04) |
Gründe
1. Mit Beschluss vom 17. Oktober 2006 hat das Finanzgericht (FG) den Antrag des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) auf Erteilung einer Ablichtung der vollständigen Gerichts- und Verwaltungsakten abgelehnt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Im Beschwerdeverfahren hat der Kläger (erstmals) zusätzlich den Hilfsantrag gestellt, ihm bzw. seinen Prozessbevollmächtigten die Möglichkeit der Ablichtung von selbst gewählten Teilen der Gerichts- und Verwaltungsakten zu gewähren.
2. Die Beschwerde ist statthaft und zulässig. Sie ist nicht durch § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgeschlossen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stellt eine Entscheidung über die Art und Weise der Akteneinsicht keine prozessleitende Verfügung im Sinne dieser Vorschrift dar (z.B. BFH-Beschluss vom 5. Februar 2003 V B 239/02, BFH/NV 2003, 800; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 128 Rz 4; Thürmer in Hübschmann/Hepp/ Spitaler --HHSp--, § 78 FGO Rz 160 ff., jeweils m.w.N.). Dies gilt auch, soweit eine ablehnende Entscheidung des FG, die vollständigen Gerichts- und Verwaltungsakten für den Kläger bzw. dessen Prozessbevollmächtigten abzulichten, vorliegt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 12. Juli 2007 X B 48/07, BFH/NV 2007, 1919; vom 23. Oktober 2003 VII B 143/03, BFH/NV 2004, 351).
3. Die Beschwerde ist --soweit sie den Hauptantrag betrifft-- unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 132 FGO).
a) Nach § 78 Abs. 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakte und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Ferner können sich die Beteiligten auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen (§ 78 Abs. 2 Satz 1 FGO). Dabei deutet bereits die Verwendung des Wortes "Auszüge" darauf hin, dass ein Beteiligter grundsätzlich keinen Anspruch auf Ablichtung der gesamten Akten hat. Hiervon geht auch der BFH in ständiger Rechtsprechung aus (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2007, 1919; in BFH/NV 2004, 351; in BFH/NV 2003, 800).
Dies entspricht auch der Rechtslage zu der --vom Kläger in Bezug genommenen-- insoweit wortgleichen Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Ähnliches ergibt sich aus der Vorschrift des § 299 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO). Auch diese Norm gewährt einen solchen Anspruch nicht. Dies verdeutlicht bereits der Wortlaut des § 299 Abs. 1 ZPO. Denn danach können die Parteien die Prozessakten einsehen und sich "aus ihnen" Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen.
b) Der Kläger geht zutreffend davon aus, dass das Recht auf Akteneinsicht (einschließlich des Rechts auf Überlassung von Unterlagen) als Ausfluss des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) nicht nur der Informationsgewinnung als Voraussetzung für eine sachangemessene Äußerung dient; das Akteneinsichtsrecht sichert auch die Ausgewogenheit des Zugangs zum Gericht und gewährleistet damit die prozessuale Waffengleichheit. Indessen findet dieses Recht --wie vom Kläger allgemein auch so gesehen-- jedenfalls dort seine Grenze, wo es rechtsmissbräuchlich ausgeübt wird. Ein solcher Fall wird etwa angenommen, wenn ohne jede Konkretisierung und vorherige Prüfung auf Erheblichkeit der Aktenbestandteile für die Rechtsverfolgung gleichsam "ins Blaue" oder "auf Verdacht" die Ablichtung einer gesamten, umfänglichen Akte verlangt wird (vgl. auch Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 25. September 1995 Bf IV 8/94, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungs-Report --NVwZ-RR-- 1996, 304; Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 78 Rz 44). Das Gleiche gilt, wenn der Beteiligte oder sein Prozessbevollmächtigter ohne Schwierigkeiten die notwendigen Auszüge oder Aufzeichnungen selbst anfertigen kann (vgl. Rudisile in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 100 Rz 21; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 14. Aufl., § 100 Rz 5, jeweils m.w.N.) bzw. wenn ein Beteiligter pauschal den gesamten Akteninhalt anfordert, obwohl anzunehmen ist, dass ihm die darin enthaltenen Schriftsätze, Bescheide oder prozessleitenden Verfügungen des Gerichts bereits bekannt sind.
c) Nach Maßgabe dieser rechtlichen Grundsätze erweist sich das Begehren des Klägers als rechtsmissbräuchlich.
Der (ehemalige) Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte am 27. Oktober 2006 Akteneinsicht genommen. Dabei wurden ihm die gesamten, dem FG vorliegenden Akten vorgelegt. Nach Akteneinsicht erneuerte er mündlich seinen schon früher gestellten, jedoch abgelehnten Antrag auf Erteilung von Kopien des vollständigen Akteninhalts und gab an, es seien folgende Aktenbestandteile abzulichten und ihm zuzusenden (Einkommensteuer-Akte Bl. 1-50; Rechtsbehelfs-Akte Bl. 1-95; FG-Akte Bl. 1-20). Wie das FG in seinem Nichtabhilfebeschluss zutreffend anführte, handelte es sich trotz der Bezifferung der abzulichtenden Seiten nach wie vor um den gesamten Aktenbestand (hinsichtlich der FG-Akte bis zum Eingang des Antrags auf Akteneinsicht). Trotz der vorgenommenen Akteneinsicht hat sich der (ehemalige) Prozessbevollmächtigte nicht der --vergleichsweise geringen-- Mühe unterzogen, diejenigen Aktenteile auszusondern, die auch aus der Sicht des Klägers unter keinem Gesichtspunkt als relevant für die Prozessführung anzusehen sind bzw. von denen mangels anderweitiger Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie ihm --dem Bevollmächtigten-- bereits bekannt sind.
4. Über den Hilfsantrag hat das FG noch nicht entschieden. Der Senat hält es für zweckmäßig, die Sache insoweit an die sachnähere Vorinstanz zurückzuverweisen. Eine Zurückverweisung ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH auch im Beschwerdeverfahren zulässig (vgl. hierzu Gräber/Ruban, a.a.O., § 132 Rz 10, m.w.N.; Bergkemper in HHSp, § 132 FGO Rz 28). Dem Kläger bzw. seinen Prozessbevollmächtigten wird es --ggf. nach erneuter Akteneinsicht-- obliegen, diejenigen Aktenbestandteile hinreichend konkret zu bezeichnen, die aus der Sicht des Klägers für eine sachdienliche Prozessführung zweckdienlich sind.
Fundstellen
Haufe-Index 1834067 |
BFH/NV 2008, 101 |
HFR 2008, 360 |