Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Anforderungen einer Verfahrensrüge wegen nicht ordnungsgemäßer Besetzung und Fehlens von Entscheidungsgründen
Leitsatz (NV)
1. Rügt der Kläger, das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt, so muß er darlegen, daß und warum nach dem Geschäftsverteilungsplan des FG bzw. nach dem senatsinternen Geschäftsverteilungsplan des Senats, dessen Entscheidung angefochten ist, der Spruchkörper nicht ordnungsgemäß besetzt war.
2. Mit der Behauptung, das FG habe seine Entscheidung unter Verwendung von ,,Textbausteinen" begründet, ist nicht schlüssig dargelegt, dem angefochtenen Urteil fehle - ganz oder teilweise - die Begründung.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nrn. 1-2, 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhob mit Schriftsatz vom 26. März 1991 Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1987 u.a. mit der Begründung, der Kinderfreibetrag und der Grundfreibetrag seien zu niedrig und die beschränkte Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen sei verfassungswidrig. Weiter beanstandete er die Adressierung des Bescheides und wandte sich dagegen, daß der Bescheid wegen der Höhe des Kinder- und Grundfreibetrages nach § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) für vorläufig erklärt worden sei.
Der Kläger beantragte weiter für den Fall, daß der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) dem Einspruch nicht abhelfe, umgehend eine rechtsbehelfsfähige Entscheidung. Über den Einspruch ist noch nicht entschieden.
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 1991 erhob der Kläger Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Das Finanzgericht (FG) lud zur mündlichen Verhandlung auf den 30. September 1991. Die Ladung wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 3. September 1991 zugestellt.
In der am 30. September 1991 durchgeführten mündlichen Verhandlung verband das FG das Klageverfahren des Klägers mit 22 weiteren Untätigkeitsklagen anderer Steuerpflichtiger, die jeweils ebenfalls vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers vertreten waren, zur gemeinsamen Verhandlung.
Der Prozeßbevollmächtigte lehnte in der mündlichen Verhandlung namens des Klägers den Vorsitzenden Richter am FG A wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das FG wies, in der geschäftsplanmäßigen Besetzung ohne Mitwirkung des abgelehnten Vorsitzenden, das Befangenheitsgesuch zurück. Die Beschwerde gegen diese Zurückweisung hat der erkennende Senat mit Beschluß vom heutigen Tage (X B 5/92) zurückgewiesen.
Im Anschluß an die Zurückweisung des Befangenheitsgesuchs gegen den Vorsitzenden des FG lehnte der Prozeßbevollmächtigte namens des Klägers die gesamte Richterbank einschließlich der ehrenamtlichen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab und stützte dies darauf, in der Zeit von 10.20 Uhr bis 12.45 Uhr seien 29 mündliche Verhandlungen vorgesehen gewesen, so daß sich der Eindruck aufdränge, daß den Richtern an einer Überprüfung ihrer Argumente nicht gelegen sei. Das rechtliche Gehör solle ,,aus unverständlichen Gründen zu einer Farce herabgewürdigt werden". Es scheine deshalb nicht gewährleistet, daß das Gericht seiner Fürsorgepflicht für die sachliche Prüfung des Klagevorbringens nachkommen wolle. Für die Terminierung sei zwar in erster Linie der Vorsitzende verantwortlich. Die anderen Richter des FG ebenso wie die ehrenamtlichen Richter hätten jedoch das Verhalten des Vorsitzenden zumindest stillschweigend gebilligt und damit zu erkennen gegeben, daß sie ebenso wie der Vorsitzende dem Kläger nur Schaden zufügen wollten.
Das FG verwarf in der geschäftsplanmäßigen Besetzung (einschließlich der ehrenamtlichen Richter) das Ablehnungsgesuch als rechtsmißbräuchlich und wies in der gleichen Besetzung die Untätigkeitsklage als unzulässig ab. Die Revision ließ es nicht zu.
Es vertrat im Urteil die Auffassung, die Ablehnung aller Mitglieder der Richterbank sei mißbräuchlich gewesen und habe deshalb unbeachtet bleiben können. Die Ablehnung zunächst des Vorsitzenden und daran anschließend die unsubstantiierte Unterstellung, die Beisitzer und die ehrenamtlichen Richter ließen sich durch den Vorsitzenden zum Verstoß gegen ihren Richtereid verleiten, zeige deutlich, daß das Ablehnungsgesuch aus unsachlichen Erwägungen gestellt sei und nicht von einer ernstlichen Besorgnis der Befangenheit getragen sei.
Die Abweisung der Untätigkeitsklage begründete das FG im wesentlichen damit, daß eine Untätigkeitsklage unzulässig sei, wenn weder das FA noch das FG wegen anhängiger Beschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über dieselbe Rechtsfrage in der Sache entscheiden dürften.
Das Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 7. Dezember 1991 zugestellt. Die gegen die Nichtzulassung der Revision erhobene Beschwerde des Klägers hat der erkennende Senat mit Beschluß vom heutigen Tage zurückgewiesen (X B 17/92).
Mit einem am 6. Januar 1992 beim FG eingegangenen Schriftsatz, mit dem der Kläger weitere Gründe für die Nichtzulassungsbeschwerde vorträgt, legte der Kläger Revision ein.
Der Kläger stützt die Revision auf § 116 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 FGO.
Das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen: 13 Senate des FG seien ,,willkürlich über- und unterbesetzt". Der . . .Senat des FG, dessen Urteil angefochten ist, habe nur 2 3/4 Richterstellen. Für die willkürliche Über-/Unterbesetzung gebe es keinen sachlichen Grund. Da nach § 5 Abs. 3 FGO die Senate der FG ausschließlich in der Besetzung von drei Richtern entschieden, sei die Besetzung manipulierbar. - Bei der Entscheidung hätte mindestens ein Richter mitgewirkt, der wegen Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossen gewesen sei. Insoweit sei der Ausgang der Beschwerdeverfahren abzuwarten. - Die Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen gewesen, weil das Urteil in Tatbestand und Entscheidungsgründen auf das Sitzungsprotokoll Bezug nehme, das weder dem Kläger noch dem Prozeßbevollmächtigten vorgelegen habe und ihnen vor Beginn der Revisionsfrist nicht zugänglich gewesen sei. Das Urteil sei zwar mit Gründen versehen. Diese seien jedoch, wie eine Vielzahl von Urteilen des . . . Senats des FG in ähnlichen Sachen beweise, aus ,,Textbausteinen" zusammengesetzt und deshalb nicht individuell auf den Einzelfall abgestellt. Daraus ergäben sich Fehler, wie in der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführt sei. Das FG habe des weiteren bei der Frage, ob das FA ihm, dem Kläger, einen ,,zureichenden Grund" i.S. des § 46 Abs. 1 FGO mitgeteilt habe, keine Ausführungen dazu gemacht, daß er Einspruch nicht nur wegen des Kinder- und Grundfreibetrages eingelegt habe.
Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde (X B 17/92) wandte sich der Kläger erstmals gegen die im Urteil ausgesprochene Zurückweisung des Befangenheitsgesuchs gegen den Vorsitzenden Richter am FG A sowie die Richter am FG B, C und D und die ehrenamtlichen Richter E und F. Das Ablehnungsgesuch sei nicht rechtsmißbräuchlich gewesen, denn der Kläger hätte angesichts des Verlaufs der mündlichen Verhandlung zu Recht den Eindruck gewonnen, das FG wolle seine Argumente nicht zur Kenntnis nehmen. Der Prozeßbevollmächtigte habe vergeblich versucht, ,,von dem 5-Minuten-Mechanismus wegzukommen".
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig. Sie ist durch Beschluß zu verwerfen (§§ 124, 126 Abs. 1 FGO).
1. Nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO bedarf die Revision keiner Zulassung, wenn als wesentlicher Mangel gerügt wird, der erkennende Senat des FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Die insoweit vom Kläger erhobene Rüge ist nicht ordnungsgemäß erhoben worden.
Eine Verfahrensrüge genügt nur dann den Anforderungen des § 120 Abs. 2 FGO, wenn die zur Begründung vorgetragenen Tatsachen, ihre Richtigkeit unterstellt, den behaupteten Verfahrensmangel ergeben (z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 21. April 1986 IV R 190/85, BFHE 146, 357, BStBl II 1986, 568; vom 17. Januar 1990 IX R 6/89, BFH/NV 1990, 664; Beschluß des erkennenden Senats vom 7. März 1990 X R 59/89, BFH/NV 1991, 103). Rügt der Kläger wie im Streitfall, das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, so müssen in sich schlüssig die Tatsachen vorgetragen werden, die - unterstellt man die Richtigkeit des Vorbringens - diesen Verfahrensmangel ergeben (BFH/NV 1991, 103). Aus der Revisionsbegründung hätte sich deshalb ersehen lassen müssen, daß und warum nach dem Geschäftsverteilungsplan für das FG bzw. nach dem senatsinternen Geschäftsverteilungsplan des . . .Senats des FG, dessen Entscheidung angefochten ist, der Spruchkörper nicht ordnungsgemäß besetzt war. Diesen Anforderungen genügt die Revisionsbegründung nicht.
Der Hinweis darauf, daß andere Senate des FG mit einer Zuteilung von vier Richtern (ein Vorsitzender und drei beisitzende Richter) gegenüber der gesetzlich vorgeschriebenen Zahl von drei Richtern (§ 5 Abs. 3 FGO) überbesetzt sind (vgl. hierzu BFH-Beschluß vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252), reicht schon deshalb nicht aus, weil er nicht den Spruchkörper betrifft.
Soweit der Kläger vorträgt, der . . . Senat des FG sei nur ,,mit 2 3/4 Richterstellen" besetzt, hätte er vortragen müssen, daß und weshalb nach dem Geschäftsverteilungsplan nicht abstrakt und generell (vgl. hierzu ausführlich BFH in BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252 m.w.N.) bestimmt ist, welche Richter im Einzelfall zur Entscheidung berufen sind und welche theoretischen Möglichkeiten der Manipulation bei der Zusammensetzung des Spruchkörpers sich daraus ergeben. Dies hat der Kläger nicht getan.
Es ist nicht Sache des Revisionsgerichts, diese kraft Gesetzes dem Kläger obliegende Vorprüfung an dessen Stelle nachzuholen.
2. Einer Zulassung der Revision bedarf es nach § 116 Abs. 1 Nr. 2 FGO nicht, wenn der Kläger rügt, an der Entscheidung habe ein Richter mitgewirkt, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war. Die Revision kann jedoch nur darauf gestützt werden, daß ein Richter mit Erfolg abgelehnt wurde. Das setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, daß der Beschwerde gegen ein Ablehnungsgesuch stattgegeben wurde, sei es durch das FG, sei es durch die Beschwerdeentscheidung des BFH (grundlegend BFH-Beschluß vom 30. November 1981 GrS 1/80, BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
a) Die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs gegen den Vorsitzenden Richter am FG A hat der erkennende Senat mit Beschluß vom heutigen Tage zurückgewiesen (X B 5/92).
b) Die mit der Nichtzulassungsbeschwerde erhobene Rüge gegen die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Verwerfung des Ablehnungsgesuchs ist rechtsmißbräuchlich und deshalb unbeachtlich. Insoweit wird auf die Begründung der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde vom heutigen Tag (X B 17/92), verwiesen.
3. Auch die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift bedarf es einer Zulassung der Revision nicht, wenn als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, daß das Urteil nicht mit Gründen versehen ist.
§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO betrifft grundsätzlich nur das Fehlen der rechtlichen Begründung. Ein absoluter Revisionsgrund i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegt deshalb nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn das FG die Gründe seines Urteils hinsichtlich eines wesentlichen Streitpunktes durch Bezugnahme auf eine andere von ihm erlassene Entscheidung ersetzt, die den Beteiligten bei Beginn der Revisionsfrist weder bekannt noch zugänglich war (z.B. BFH-Urteil vom 31. Juli 1990 VII R 60/89, BFHE 162, 1, BStBl II 1990, 1071 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Diese Auffassung beruht auf der Überlegung, daß die Bezugnahme auf andere Schriftstücke nicht nur im Tatbestand grundsätzlich zulässig und dort nach Maßgabe des § 105 Abs. 3 Satz 2 FGO sogar ausdrücklich geboten ist, sondern daß das Gericht auch befugt ist, einzelne Teile der Urteilsgründe durch Bezugnahme zu ersetzen, vorausgesetzt, den Beteiligten ist bei Beginn der Revisionsfrist das Schriftstück, das die in bezug genommenen und die Entscheidung wesentlichen rechtlichen Überlegungen und Wertungen enthält, bekannt oder zugänglich.
Kein Mangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegt jedoch vor, wenn die Entscheidung den Sachverhalt nicht vollständig wiedergibt (z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 119 Rz.23; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 116 FGO Rz.23). Sind die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung nicht ausreichend dargestellt, so handelt es sich regelmäßig um einen materiell-rechtlichen Fehler, jedenfalls nicht um einen Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO. Mit der Behauptung, das FG habe im Tatbestand hinsichtlich der Einzelheiten auf das Sitzungsprotokoll und die Anlagen hierzu verwiesen, wird deshalb kein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO gerügt.
Im übrigen sind die bei den Akten befindlichen Urkunden den Beteiligten nach Maßgabe des § 78 FGO zugänglich. Der Kläger hat nicht vorgetragen, er hätte sich nach Zustellung des Urteils vergeblich bemüht, von den ihm nach § 78 FGO zustehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen.
Auch mit der Behauptung, das FG habe die Entscheidung unter Verwendung von ,,Textbausteinen" begründet, hat der Kläger nicht schlüssig darlegt, dem angefochtenen Urteil fehle - ganz oder teilweise - die Begründung. Der Kläger hat selbst nicht behauptet, das FG habe einen bestimmten Sachverhaltskomplex, einen selbständigen Anspruch, ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel oder einen entscheidungserheblichen rechtlichen Gesichtspunkt überhaupt nicht berücksichtigt.
Dasselbe gilt für die Einwände des Klägers gegen die angeblich unzureichenden Ausführungen des FG zur Mitteilung des zureichenden Grundes i.S. des § 46 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 418954 |
BFH/NV 1993, 670 |