Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens bei Streitigkeiten über die europarechtliche Qualifikation des österreichischen Kinderabsetzungsbetrags; zur Umdeutung einer einseitigen Erledigungserklärung
Leitsatz (NV)
- Eine einseitige Erledigungserklärung kann nicht in eine Klagerücknahme umgedeutet werden, wenn sich der Erklärende ausdrücklich gegen die Pflicht, die Verfahrenskosten zu tragen, wendet.
- Begehrt ein Antragsteller die Festsetzung eines Unterschiedsbetrages zwischen dem inländischen Kindergeld und der österreichischen Familienbeihilfe und hängt die Entscheidung darüber davon ab, ob der österreichische Kinderabsetzungsbetrag eine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist oder nicht, dann muss das Finanzgericht diese Frage, ggf. nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH, selbst entscheiden. Das Klageverfahren ist nicht im Hinblick auf Art. 11 des Sozialabkommens mit Österreich bis zum Abschluss einer Verständigungsvereinbarung oder bis zum Ergehen eines verbindlichen Schiedsspruchs gemäß § 74 FGO auszusetzen.
Normenkette
FGO §§ 72, 74, 136 Abs. 2, § 138 Abs. 1; EGVtr Art. 234, 249; EWGV 1408/71 Art. 4 Abs. 1 Buchst. h; SozSichAbk AUT 1995 Art. 11
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger. Er wohnte mit seiner Ehefrau, die österreichische Staatsbürgerin ist, und seinen drei Kindern in Deutschland. Er arbeitet seit … 1999 in Österreich. Die Ehefrau erhält für die drei Kinder österreichische Familienbeihilfe. Weder ihr noch dem Kläger wurde in Österreich ein Kinderabsetzbetrag gewährt, weil die österreichischen Behörden der Rechtsansicht waren, der Kinderabsetzbetrag sei keine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― 1971 Nr. L 149/2) i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 118/97 (VO Nr. 118/97) des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABlEG 1997 Nr. L 28/1).
Der Beklagte und Beschwerdeführer (Beklagter) lehnte den Antrag des Klägers auf Festsetzung eines Unterschiedsbetrages zwischen dem inländischen Kindergeld und der österreichischen Familienbeihilfe ab. Er vertrat die Auffassung, der österreichische Kinderabsetzbetrag sei eine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71. Da bei Einbeziehung des Kinderabsetzbetrages ―unstreitig― die insgesamt in Österreich gewährten Familienbeihilfen höher seien als das deutsche Kindergeld, sei ein Anspruch des Klägers auf den Unterschiedsbetrag im Inland nicht gegeben.
Der Kläger verwies dagegen auf die ablehnende Haltung der österreichischen Behörden. Er erhob gegen den Ablehnungsbescheid des Beklagten Klage mit dem Begehren, ihm ab … 1999 Unterschiedsbeträge zwischen dem inländischen Kindergeld und der österreichischen Familienbeihilfe zu gewähren.
Das Finanzgericht (FG) hat das Klageverfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt bis zum Abschluss einer Verständigungsvereinbarung der deutschen und österreichischen Behörden bzw. bis zum Ergehen eines verbindlichen Schiedsspruchs über die Frage, ob der Kinderabsetzbetrag nach § 33 Abs. 4 Nr. 3a, 3c des Einkommensteuergesetzes 1988 der Republik Österreich einem in Österreich beschäftigten Arbeitnehmer unter Beachtung des Rechts der Europäischen Union auch für Kinder zusteht, die nicht in Österreich, aber in einem anderen Mitgliedsland der Europäischen Union leben. Es hat sich dabei auf Art. 11 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit vom 4. Oktober 1995 ―im Folgenden: Sozialabkommen― (BGBl II 1998, 313, in Kraft getreten am 1. Oktober 1998, BGBl II 1998, 2544) gestützt.
Mit seiner dagegen eingelegten Beschwerde macht der Beklagte geltend, Art. 11 des Sozialabkommens sei nicht einschlägig, weil im Streitfall kein Streit über die Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens bestehe. Streitig sei vielmehr allein, ob der österreichische Kinderabsetzbetrag eine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71 sei, ob diese Leistung nach Art. 73 dieser Verordnung auch für außerhalb Österreichs wohnhafte Kinder zustehe und ob dem Kläger ggf. im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/712 über die Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie ihre Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABlEG 1972 Nr. L 74/1) i.d.F. VO Nr. 118/97 (ABlEG 1997 Nr. L 28/102) in Deutschland Unterschiedsbeträge zustehen. Die Entscheidung über diese Streitfragen obliege dem FG, das im Übrigen die Möglichkeit habe, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 ―EGVtr― (ABlEG 1997 Nr. C 340/1; ABlEG 1999 Nr. L 114/56) einzuholen. Außerdem habe das österreichische Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen mit Schreiben vom 3. Mai 2002 erklärt, es habe seine Rechtsansicht in Bezug auf die europarechtliche Qualifikation des österreichischen Kinderabsetzbetrages geändert; deshalb werde u.a. auch im vorliegenden Verfahren für den Zeitraum ab Januar 2000 der Kinderabsetzbetrag nachgezahlt.
Der Beklagte erklärt, er sei nicht bereit, die Kosten des Verfahrens zu tragen, da er mit seiner Rechtsauffassung obsiegt habe. Er sei jedoch mit einer Rücknahme der Klage einverstanden.
Der ―nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertretene― Kläger teilte mit Schreiben vom 31. Juli 2002 mit, dass sich durch die nachträgliche Auszahlung des österreichischen Kinderabsetzbetrages der Gegenstand der Klage erledigt habe. Er bittet, sich bezüglich der Verfahrenskosten an die Republik Österreich zu wenden, da er bei Klageerhebung in Deutschland nicht habe ahnen können, dass sich die österreichische Haltung ändern werde.
Entscheidungsgründe
Die nach § 128 Abs. 1 FGO zulässige Beschwerde des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Aussetzungsbeschlusses.
1. Das Verfahren ist nicht durch Rücknahme der Klage (§ 72 FGO) gegenstandslos geworden. Denn der Kläger hat die Klage nicht zurückgenommen, sondern stattdessen einseitig den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Eine Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache i.S. des § 138 Abs. 1 Satz 1 FGO ist tatsächlich jedoch nicht eingetreten, weil der Beklagte keinen Abhilfebescheid erlassen hat, sondern an seinem Ablehnungsbescheid festhält und sich in seiner von Anfang an vertretenen Rechtsauffassung bestätigt sieht. Der Umstand, dass aufgrund der Gewährung des österreichischen Kinderabsetzbetrages die Klage nach der eigenen Rechtsauffassung des Klägers keinen Erfolg haben kann, ist kein den Rechtsstreit in der Hauptsache erledigendes Ereignis.
Die somit zu Unrecht abgegebene einseitige Erledigungserklärung des Klägers kann nicht in eine Klagerücknahme i.S. des § 72 Abs. 1 Satz 1 FGO umgedeutet werden. Die Voraussetzungen für eine Umdeutung liegen nicht vor, weil der Kläger sich ausdrücklich nicht mit den Rechtsfolgen einverstanden erklärt hat, die wegen der Kosten bei einer Rücknahme der Klage kraft Gesetzes (§ 136 Abs. 2 FGO) einträten. Denn der Beklagte hatte erklärt, er sei nicht bereit, die Kosten des Verfahrens zu tragen, da er mit seiner Rechtsauffassung obsiegt habe; er sei aber mit der Rücknahme der Klage einverstanden. Daraufhin hat der Kläger statt der vom Beklagten angeregten Klagerücknahme die Hauptsache für erledigt erklärt und sich gegen die Pflicht, die Verfahrenskosten zu tragen, gewandt.
2. Der angefochtene Aussetzungsbeschluss ist aufzuheben, da die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Ein solches Rechtsverhältnis besteht im Streitfall nicht. Dieser Auffassung steht Art. 11 des Sozialabkommens mit Österreich nicht entgegen.
Nach Art. 11 Abs. 1 des Sozialabkommens sollen Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens, soweit möglich, durch die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten beigelegt und, wenn das nicht gelingt, nach Abs. 2 auf Verlangen eines Vertragsstaats einem Schiedsgericht unterbreitet werden.
a) Es ist bereits nicht ersichtlich, dass eine Streitigkeit "zwischen den Vertragstaaten" selbst vorgelegen hat (vgl. zur Notwendigkeit eines Streites zwischen den Vertragsstaaten selbst das Urteil des Bundessozialgerichts ―BSG― vom 22. April 1986 12 RK 54/84, Betriebs-Berater ―BB― 1986, 1440).
b) Aber auf jeden Fall hat der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Entscheidung darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf den Unterschiedsbetrag hat, nicht von einer Streitigkeit "über die Auslegung oder Anwendung" des Sozialabkommens abhängt. Vielmehr ist für die Entscheidung über das Klagebegehren ausschlaggebend, ob der im streitigen Zeitraum in Deutschland wohnhafte und in Österreich nichtselbständig tätige Kläger einen Anspruch auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag hat. Denn wird ein solcher Anspruch des Klägers auf den Kinderabsetzbetrag bejaht, sind ―unstreitig― die insgesamt in Österreich gewährten Familienleistungen höher als das deutsche Kindergeld, so dass die Festsetzung eines Unterschiedsbetrages nicht in Betracht kommt.
Die Entscheidung, ob dem Kläger ein Anspruch auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag zusteht, hängt allein vom europäischen Gemeinschaftsrecht und nicht von den Regelungen des Sozialabkommens mit Österreich und damit nicht von der "Auslegung oder Anwendung" dieses Sozialabkommens ab:
aa) Die vom Beklagten zitierten Vorschriften der VO Nr. 1408/71, aus denen sich ein Anspruch des Klägers entweder auf den Unterschiedsbetrag oder auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag ergibt, sind in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unmittelbar geltendes Recht (vgl. Art. 249 Abs. 2 EGVtr). Ihre Gültigkeit ist nicht von (zusätzlichen) Vereinbarungen in zwischenstaatlichen Abkommen und damit auch nicht von der Auslegung des Sozialabkommens abhängig.
bb) Soweit die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 weiterhin Sozialabkommen miteinander schließen dürfen, hat dies ausdrücklich zur Voraussetzung, dass sie die Grundsätze und den Geist dieser Verordnung beachten. Dadurch, dass zwischenstaatliche Abkommen trotz der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts weiterhin zulässig sind, soll die Möglichkeit eröffnet werden, über die Verordnung hinausgehende Regelungen zu treffen, die aufgrund von Besonderheiten im Verhältnis zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten erforderlich sind (vgl. Steinmeyer in: Fuchs ―Hrsg.―, Europäisches Sozialrecht, Art. 8 Rz. 1).
Im Streitfall hat kein Beteiligter geltend gemacht, dass sich ein Anspruch des Klägers auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag nicht aus den Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts, sondern erst aus irgendwelchen darüber hinausgehenden Regelungen des Sozialabkommens ergeben könnte. Dafür, dass Letzteres der Fall sein könnte, liegen auch keine Anhaltspunkte vor. Denn der Kläger fällt als in Deutschland wohnhafter und in Österreich beschäftigter Arbeitnehmer unstreitig in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (vgl. Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 1408/71). Dass ausschließlich Streit über die Auslegung von Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts bestanden hat, folgt auch aus dem vom Beklagten vorgelegten Schreiben des österreichischen Bundesministeriums für Soziale Sicherheit und Generationen vom 3. Mai 2002. Denn darin wird ausdrücklich erklärt, dass das federführend zuständige Bundesministerium für Finanzen in "Bezug auf die europarechtliche Qualifikation des österreichischen Kinderabsetzbetrages" seine Rechtsansicht geändert habe.
cc) Darüber, ob eine Leistung, die in einem Mitgliedstaat gewährt wird, eine Familienleistung i.S. des § 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71 ist (vgl. dazu EuGH-Urteile vom 10. Oktober 1996 in den Rs. C-245/94 und C-312/94, EuGHE 1996, I-4895, Randnr. 17 und 18, m.w.N.; vom 12. Mai 1998 Rs. C-85/96, EuGHE 1998, I-2691 Randnr. 28) und der Gemeinschaftsbürger deshalb einen Rechtsanspruch auf sie hat, haben die zuständigen nationalen Gerichte, ggf. nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH gemäß Art. 234 EGVtr, zu entscheiden. Die beiden Vertragsstaaten des Sozialabkommens wären als Mitgliedstaaten der Europäischen Union weder berechtigt gewesen noch hat es in ihrer Absicht gelegen, für diese Fragen eine Zuständigkeit des in Art. 11 Abs. 2 des Sozialabkommens genannten Schiedsgerichts zu begründen und damit ggf. den EuGH als gesetzlichen Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (vgl. dazu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 1986 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339, 366) zu umgehen.
3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens in einem unselbständigen Zwischenverfahren ergeht (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 4. August 1988 VIII B 83/87, BFHE 154, 15, BStBl II 1988, 947; vom 30. Juni 1995 VII B 175/94, BFH/NV 1996, 180) und die Kosten eines solchen unselbständigen Nebenverfahrens eine Einheit mit den Kosten des Klageverfahrens bilden (vgl. BFH-Beschluss vom 4. Mai 1999 VIII B 94/98, BFH/NV 1999, 1483, m.w.N.).
Auf die Möglichkeit, gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren abzusehen, wird hingewiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 926160 |
BFH/NV 2003, 921 |