Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzen der Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses
Leitsatz (amtlich)
Ein Verweisungsbeschluss, der unter Verstoß gegen den Grundsatz der sog. perpetuatio fori (Grundsatz der fortdauernden Zuständigkeit des einmal angerufenen Gerichts) ergeht, kann wegen offensichtlicher Fehlerhaftigkeit unwirksam sein.
Normenkette
ZPO § 261 Abs. 3 Nr. 2; FGO §§ 70, 39 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, § 155; GVG §§ 17, 17a, 17b
Tatbestand
I. Der Kläger erhob beim Finanzgericht (FG) A Klage gegen das Finanzamt (FA) X, mit der er sich gegen einen von diesem FA erlassenen Haftungsbescheid wendete. Darin wurde er als Entleiher im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung nach § 42d Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wegen rückständiger Lohnsteuer in Anspruch genommen. Verleiher war eine Firma mit Sitz in Bulgarien.
Nach Anhörung der beiden Beteiligten und gegen deren Auffassung verwies der zuständige Senat des FG A den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13. Mai 2003 an das FG B. Zur Begründung führte das verweisende FG im Wesentlichen aus, mit dem Gesetz zur Eindämmung der illegalen Betätigung im Baugewerbe vom 30. August 2001 (BGBl I, 2267, BStBl I 2001, 602) sei ein gesetzlicher Parteiwechsel eingetreten. Durch Art. 6 des genannten Gesetzes i.V.m. § 20a der Abgabenordnung (AO 1977) sowie § 1 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über die örtliche Zuständigkeit für die Umsatzsteuer im Ausland ansässiger Unternehmer sei die Zuständigkeit für die Besteuerung von Werkvertragsunternehmen mit Sitz der Geschäftsleitung in Bulgarien zentral dem FA I übertragen worden; dies gelte auch hinsichtlich des Lohnsteuerabzugs und einer damit zusammenhängenden Haftung. Aufgrund des gesetzlichen Parteiwechsels sei auch die Zuständigkeit des FG B begründet worden. Nach § 38 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei dasjenige FG örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Behörde, gegen welche die Klage gerichtet ist, ihren Sitz hat. Die Vorschrift des § 261 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) ―sog. perpetuatio fori― könne über § 155 FGO keine Anwendung finden, da insoweit grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Verfahrensarten bestünden. Der Regelungsbereich des FG A sei auf das Land A und die dortigen Finanzämter beschränkt.
Mit Beschluss vom 10. Juni 2003 verwies das FG B den Rechtsstreit an das FG A zurück. Der Beschluss des FG A sei offensichtlich rechtsfehlerhaft, weil er im Gesetz keine Rechtsgrundlage finde. Es könne offen bleiben, ob ein gesetzlicher Beklagtenwechsel stattgefunden habe. Auch in einem solchen Fall habe sich nichts an der ursprünglich begründeten Zuständigkeit des FG A geändert. § 70 Satz 1 FGO erkläre die Regelungen der §§ 17 bis 17b des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) ausdrücklich für entsprechend anwendbar. Demnach werde die Zuständigkeit durch eine nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt. Die Zurückverweisung an das FG A sei nicht ausgeschlossen, da der Verweisungsbeschluss des FG A offensichtlich unhaltbar sei. Im Streitfall liege eine nicht statthafte willkürliche Verlagerung des gesetzlichen Richters auf das FG B vor.
Mit Beschluss vom 30. Juni 2003 hat das FG A den Bundesfinanzhof (BFH) angerufen, um das zuständige FG zu bestimmen. Zur weiteren Begründung führt das FG an, der Grundsatz der sog. perpetuatio fori gelte nicht im Falle einer Klageänderung, wozu auch der Beteiligtenwechsel zähle. Unabhängig davon, ob die ursprüngliche Verweisung zu Recht erfolgte, sei das FG B jedenfalls deshalb zuständig geworden, weil die Verweisung nicht offensichtlich rechtsfehlerhaft erfolgt sei (Hinweis auf BFH-Beschluss vom 20. März 1995 IX S 5/94, BFH/NV 1995, 907). Im Übrigen sei die Zuständigkeit des FA I zweckmäßig.
Entscheidungsgründe
II. Die Anrufung des BFH gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO führt zur Bestimmung des FG A als dem in der Sache zuständigen FG.
1. Die in § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO genannten Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung liegen vor. Das FG A hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13. Mai 2003 an das FG B verwiesen. Dieses hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 10. Juni 2003 an das FG A zurückverwiesen. Beide Entscheidungen sind unanfechtbar (§ 70 Satz 2 FGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG). Zur Entscheidung über diesen negativen Kompetenzkonflikt konnte das FG A den BFH zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (§ 39 Abs. 2 Satz 1 FGO). Für die Zulässigkeit der Anrufung des BFH ist es unerheblich, ob beide Beschlüsse oder auch nur einer von ihnen rechtens sind (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1995, 907; vom 25. März 1993 I S 4/93, BFH/NV 1993, 676; Stöcker in Beermann/Gosch, Finanzgerichtsordnung, § 70 Tz. 22).
2. Es bedarf keiner Entscheidung des Senats, ob im Streitfall ein gesetzlicher Beklagtenwechsel vorliegt, weil das FA I in Fällen der Arbeitnehmerüberlassung durch ausländische Verleiher aufgrund gesetzlicher Bestimmungen als zentrales FA umfassend und möglicherweise auch rückwirkend (vgl. Art. 22 des Steueränderungsgesetzes ―StÄndG 2001― vom 20. Dezember 2001, BStBl I 2002, 4, 5) zuständig geworden ist. Durch einen solchen Beklagtenwechsel (vgl. hierzu auch BFH-Urteil vom 16. Oktober 2002 I R 17/01, BFHE 200, 521, BStBl II 2003, 631) geht eine einmal begründete Zuständigkeit des betreffenden Gerichts nicht verloren.
3. Das FG B weist zutreffend darauf hin, dass ―aufgrund der in § 70 Satz 1 FGO angeordneten entsprechenden Anwendung des § 17 Abs. 1 GVG― die Zuständigkeit des FG A durch eine nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt wird. Durch diesen Grundsatz der sog. perpetuatio fori bzw. Kontinuitätsgrundsatz (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 70 FGO Tz. 4) soll verhindert werden, dass bei jeder Veränderung eines die Zuständigkeit begründenden Umstands ein neues Gericht mit dem Rechtsstreit befasst wird. Dies soll die Kapazitäten der Justiz schonen und vor allem den Rechtsuchenden vor Verzögerungen und Verteuerungen des Prozesses bewahren (z.B. Musielak-Foerste, Zivilprozessordnung, 4. Aufl., § 261 Rn. 13, m.w.N.). Das bisherige Gericht soll nicht wertlos gearbeitet haben (Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozessordnung, 63. Aufl., § 261 Rn. 28). Hat ein Kläger demnach bei einem ―nach der prozessrechtlichen Ordnung zuständigen― Gericht Klage erhoben, ist in aller Regel jeder weitere Zuständigkeitsstreit ausgeschlossen (Bundesgerichtshof ―BGH―, Urteil vom 26. April 2001 IX ZR 53/00, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 2001, 2477).
Richtig ist allerdings, dass ein Gericht seine Zuständigkeit im Falle einer Änderung des Streitgegenstandes (Klageänderung) neu prüfen muss (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., Anh. § 33 Rz. 11). Entgegen der Auffassung des FG A stellt indessen ein gesetzlicher Beklagtenwechsel weder eine Änderung des Streitgegenstandes noch eine Klageänderung dar. Es entspricht herkömmlichen Rechtsgrundsätzen, dass im Falle eines gesetzlichen Beteiligtenwechsels infolge Übergang der Zuständigkeit auf einen anderen Rechtsträger dieser in das Verfahren einrückt, ohne dass entsprechende Erklärungen der Beteiligten erforderlich sind und ohne dass eine Klageänderung vorliegt (BFH-Urteil vom 15. Dezember 1971 I R 5/69, BFHE 104, 524, BStBl II 1972, 438; vgl. auch Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14. Juni 2001 5 C 21/00, BVerwGE 114, 326; Bundessozialgericht, Urteil vom 9. Dezember 1987 10 Rkg 5/85, BSGE 62, 269; zur Klageänderung beim gewillkürten Beteiligtenwechsel, vgl. Eyermann/Rennert, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl., § 91 Rn. 24).
4. Ein Verweisungsbeschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, bindend (§ 70 Satz 1 FGO i.V.m. § 17a Abs. 1 GVG). Auch sachlich fehlerhafte Verweisungsbeschlüsse binden das angewiesene Gericht und erlauben grundsätzlich keine weitere Überprüfung (vgl. z.B. BGH-Beschluss vom 13. November 2001 X ARZ 266/01, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht ―NJW-RR― 2002, 713).
Es ist indessen in der Rechtsprechung und der Literatur anerkannt, dass einem Verweisungsbeschluss (ausnahmsweise) dann keine Bindungswirkung zukommt bzw. die Bindungswirkung hinter dem Rechtsgedanken des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) zurücktritt, wenn die Verweisung offensichtlich unhaltbar ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren, willkürlichen Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt und damit unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze nicht mehr verständlich erscheint (für den Fall einer Rechtswegverweisung, vgl. BFH-Beschluss vom 26. Februar 2004 VII B 341/03, BFHE 204, 413, BStBl II 2004, 458; ausführlich Tombrink, NJW 2003, 2364). Die einfache Fehlerhaftigkeit eines Richterspruchs reicht hierzu nicht (BGH-Urteil vom 9. Juli 2002 X ARZ 110/02, NJW-RR 2002, 1498). Vielmehr muss er schlechthin als nicht mehr nachvollziehbar erscheinen. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich (Fischer, Monatsschrift für Deutsches Recht ―MDR― 2002, 1401, 1403; vgl. auch Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 26. Mai 2004 1 BvR 172/04, NJW 2004, 2584; vom 4. Oktober 2004 1 BvR 964/04, NJW 2005, 409; Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 25. Aufl., § 281 Rn. 17, m.w.N.).
5. Nach Maßgabe dieser Rechtsprechungsgrundsätze kommt dem Verweisungsbeschluss des FG A keine bindende Wirkung zu.
Ungeachtet des Umstands, dass das verweisende FG die Anwendbarkeit des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO verneint hat, ist seine Auffassung, der Grundsatz der sog. perpetuatio fori finde im Finanzgerichtsprozess keine Anwendung, offensichtlich nicht haltbar und stellt im Ergebnis eine willkürliche Verlagerung des gesetzlichen Richters dar (vgl. auch Stöcker in Beermann/Gosch, a.a.O., § 70 Tz. 12). Die fortwährende Zuständigkeit des einmal angerufenen Gerichts gehört zu den althergebrachten Grundsätzen des gesamten deutschen Prozessrechts. Im Übrigen ist der Grundsatz der sog. perpetuatio fori für den Steuerprozess ausdrücklich in § 70 FGO unter Bezugnahme auf § 17 Abs. 1 GVG geregelt. Es ist deshalb nicht verständlich, dass sich das FG A damit nicht auseinander gesetzt hat. Dies gilt umso mehr, als das verweisende FG die Vorschrift des § 70 FGO (i.V.m. §§ 17 ff. GVG) nicht übersehen haben kann. Denn es hat sich in seinem Verweisungsbeschluss bei dem Ausspruch, es sei unzuständig, ausdrücklich auf die Vorschrift des § 70 FGO (i.V.m. § 17a GVG) und in Bezug auf die ―nicht zu treffende― Kostenentscheidung auf § 17b Abs. 2 GVG bezogen. Letztlich haben sich sowohl der Kläger als auch das FA X detailliert und ausdrücklich gegen eine Verweisung an das FG B ausgesprochen.
6. Der Senat weicht mit dieser Würdigung nicht von den Grundsätzen des BFH-Beschlusses vom 9. November 2004 V S 21/04 (BStBl II 2005, 101) ab. Nach dieser Entscheidung kann ein Wechsel des beklagten FA unter bestimmten Umständen einen Wechsel in der Zuständigkeit des FG zur Folge haben. Eine Divergenz scheidet schon deshalb aus, weil dem Verfahren V S 21/04 ein anderer Sachverhalt zugrunde lag. Dieser war dadurch geprägt, dass ein ―nach einer Sitzverlegung des klagenden Unternehmens― zuständig gewordenes FA einen Änderungsbescheid erlassen hatte, der nach § 68 FGO Gegenstand des Verfahrens wurde. Solche Umstände liegen im Streitfall nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 1371425 |
BFH/NV 2005, 1196 |
BStBl II 2005, 573 |
BFHE 2005, 1 |
BFHE 209, 1 |
BB 2005, 1377 |
BB 2005, 1432 |
DB 2005, 1313 |
DStZ 2005, 432 |
HFR 2005, 869 |