Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlerhafte Beurteilung der Beweislast als Verfahrensmangel
Leitsatz (NV)
- Ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist gegeben, wenn das FG bei Anwendung einer Norm des Gerichtsverfahrensrechts die Regeln über die Verteilung der Beweislast verkennt.
- Beweisanträgen, denen "aus der Luft gegriffene" Behauptungen zugrunde liegen, lösen als sog. Beweisermittlungsanträge keine Pflicht des Tatsachengerichts zur Beweiserhebung aus.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 2; FGO §§ 47, 76, 96, 115 Abs. 2-3
Tatbestand
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) erließ nach einer Selbstanzeige des Klägers und Beschwerdeführers zu 1 (Kläger zu 1) gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Einkommensteuerbescheide 1982 bis 1986. Hiergegen legten der Kläger zu 1 und seine verstorbene Ehefrau Einspruch ein, den das FA durch Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 1997, einem Donnerstag, als unbegründet zurückwies. Die Einspruchsentscheidung und der Postausgangsvermerk mit Datum 2. Oktober 1997 sind vom Sachgebietsleiter abgezeichnet worden. Freitag, der 3. Oktober 1997, war ein gesetzlicher Feiertag (Tag der Deutschen Einheit).
Die damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger, deren Kanzlei sich in A befindet, erhoben am 6. November 1997 durch Telefax Klage beim Finanzgericht (FG).
Auf den Hinweis des FA in der Klageerwiderung, dass die Klage verspätet erhoben und deshalb unzulässig sei, machten die Prozessbevollmächtigten geltend, die Einspruchsentscheidung sei ihnen erst am 6. Oktober 1997 (Montag) zugegangen. Zum Nachweis legten sie das Übersendungsschreiben des FA mit dem Eingangsstempel ihres Büros vom 6. Oktober 1997 vor. Sie machten ferner geltend, dass ihre Kanzlei am Sonnabend, dem 4. Oktober 1997, nicht geöffnet gewesen sei, so dass ihnen eine Kenntnisnahme an diesem Tag nicht möglich gewesen sei. Gegen einen Zugang am 4. Oktober 1997 spreche auch, dass die zuständige Briefzustellerin der Post, die einen Schlüssel für ihre Büroräume habe, am Sonnabend nicht alle auszutragenden Briefe mitnehme. Ob die Postbedienstete die Einspruchsentscheidung am 4. oder am 6. Oktober 1997 in ihr Büro gebracht habe, lasse sich nicht mehr sicher feststellen. Selbst wenn aber die Einspruchsentscheidung am 4. Oktober 1997 eingegangen sein sollte, habe die Kenntnisnahme nach den Gepflogenheiten des Verkehrs nicht erwartet werden können. Die Postanlieferung könne in einem solchen Fall nicht mit dem Zugang gleichgesetzt werden.
Das FG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Die Kläger hätten schuldhaft die Klagefrist des § 47 der Finanzgerichtsordnung (FGO) versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, der das FG nicht abgeholfen hat, beantragen die Kläger, die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen, da die Vorentscheidung auf Verfahrensfehlern beruhe. Das FG habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass die gesetzliche Klagefrist versäumt worden sei.
Das FA beantragt, die Beschwerde zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Verfahrensmängel, auf denen das Urteil des FG beruhen kann, sind nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet worden oder sind nicht gegeben.
1. Im Regelfall liegt kein Verfahrensmangel, sondern ein materiell-rechtlicher Fehler vor, wenn das FG die Grundsätze über die Verteilung der Beweislast fehlerhaft beurteilt (Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 15. Januar 2001 IX B 99/00, BFH/NV 2001, 887, m.w.N.). Denn die Regeln über die Beweislast sind ergänzendes Recht; sie vervollständigen einen Rechtssatz für den Fall, dass die ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal ausfüllenden Tatsachen nicht nachgewiesen werden können (Pietzner in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 132 Rz. 91). Wird die Beweislast bei der Anwendung einer Norm verkannt, die dem Gerichtsverfahrensrecht angehört, kann darin ein Verfahrensmangel liegen (Pietzner, a.a.O.). Im Streitfall rügen die Kläger, das FG habe ―entgegen der gesetzlichen Anordnung des § 122 Abs. 2 AO 1977, nach welcher im Zweifel die Behörde den Zeitpunkt des Zugangs des Bescheids nachzuweisen hat― im Ergebnis den Klägern die Beweislast für den Zugang der Einspruchsentscheidung nach Ablauf der Frist des § 122 Abs. 2 AO 1977 auferlegt. Von der zutreffenden Anwendung des § 122 Abs. 2 AO 1977 hängt die Wahrung der Klagefrist (§ 47 FGO) ab; die fehlerhafte Handhabung der für den Lauf der Klagefrist maßgeblichen Bekanntgabe- oder Zustellungsnorm begründet deshalb einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (BFH-Beschluss vom 6. Juli 1988 II B 183/87, BFHE 153, 509, BStBl II 1988, 897). Die Beschwerde ist insoweit jedoch nicht begründet, weil das FG § 122 Abs. 2 AO 1977 nicht fehlerhaft angewendet hat. Die Vorschrift fingiert den Zugang eines mit der Post übermittelten Verwaltungsakts am dritten Tag nach dessen Aufgabe zur Post. Der Drei-Tages-Zeitraum gilt auch, wenn der letzte Tag der Frist auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag fällt und auch dann, wenn dieser Zeitraum aus Samstag, Sonntag und Feiertag besteht (BFH-Beschluss vom 22. April 1996 XI B 2/96, BFH/NV 1996, 727). Zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts und ggf. zu einer Entscheidung nach den Grundsätzen der Beweislast kommt es nur dann, wenn Zweifel am Zugang des Verwaltungsakts innerhalb der Frist des § 122 Abs. 2 AO 1977 begründet sind. Dies ist dann der Fall, wenn der Empfänger des Verwaltungsakts substantiiert und schlüssig Tatsachen vorträgt, die auf einen späteren Zugang des Bescheids hindeuten (BFH-Urteil vom 9. Dezember 1999 III R 37/97, BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175). An einem solchen substantiierten Vortrag der Kläger fehlt es im Streitfall. Die Kläger können auch nicht mit dem Einwand gehört werden, es sei ihnen nicht möglich gewesen, substantiiert Tatsachen vorzutragen, die auf einen späteren Zugang des Bescheids hindeuten (vgl. dazu nachfolgend unter 2.).
2. Die Beschwerde ist unzulässig, soweit gerügt wird, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO) verletzt, weil es den angebotenen Zeugenbeweis nicht erhoben habe.
a) Wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Verletzung einer Verfahrensvorschrift geltend gemacht, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung ―ZPO―), ist die Verfahrensrüge nur dann in zulässiger, d.h. schlüssiger Weise erhoben, wenn der Beschwerdeführer vorträgt, er habe den Verfahrensmangel in der mündlichen Verhandlung vor dem FG gerügt oder wenn er darlegt, weshalb ihm eine rechtzeitige Rüge des Mangels nicht möglich war. Zu den verzichtbaren Mängeln gehört auch das Übergehen eines Beweisantrages, wie die im Streitfall beantragte Zeugenvernehmung (vgl. BFH-Beschluss vom 31. Januar 1989 VII B 162/88, BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372, 373). Bei verzichtbaren Verfahrensmängeln geht das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren, sondern, wenn der Beteiligte ―wie im Streitfall― in der mündlichen Verhandlung durch einen rechtskundigen Prozessbeteiligten vertreten war, auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge; ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Im Streitfall ergibt sich aus dem Vorbringen in der Beschwerdebegründung nicht, dass die Kläger die vom FG erkennbar unterlassene Vernehmung des angebotenen Zeugen in der mündlichen Verhandlung vor dem FG gerügt haben oder weshalb ihnen eine solche Rüge nicht möglich war. Auch aus dem Sitzungsprotokoll vom 26. September 2000 ergibt sich nichts für eine solche Rüge.
b) Die Verfahrensrüge hätte aber auch dann keinen Erfolg, wenn die Kläger den behaupteten Mangel rechtzeitig gerügt hätten. Zwar weisen die Kläger zu Recht darauf hin, dass ein Gericht im Regelfall eine beantragte Beweiserhebung nur dann ablehnen darf, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder wenn es die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsachen zugunsten der betreffenden Partei unterstellt (BFH-Urteil vom 13. März 1996 II R 39/94, BFH/NV 1996, 757, m.w.N.). Eine Ausnahme gilt jedoch für unsubstantiierte Beweisanträge (BFH-Urteil vom 21. Juni 1988 VII R 135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841). Unsubstantiiert sind nicht nur Beweisanträge, die das Beweisthema nicht hinreichend konkretisieren, sondern auch solche Anträge, die dazu dienen sollen, unsubstantiierte Behauptungen zu stützen, etwa solche, die ohne jede tatsächliche Grundlage aufgestellt werden. Zwar darf eine Behauptung nicht schon dann als unerheblich behandelt werden, wenn sie nicht auf dem Wissen des Behauptenden, sondern auf einer Vermutung beruht. Denn ein Beteiligter wird häufig von einer entscheidungerheblichen Tatsache (hier: Absendedatum der Einspruchsentscheidung), die sich ihm als möglich oder wahrscheinlich darstellt, keine genaue Kenntnis haben. Wenn der gegnerische Prozessbeteiligte dieser Vermutung aber mit einer plausiblen Darstellung entgegentritt, darf diese nicht einfach ignoriert werden. Es ist dem Beteiligten zuzumuten, sich hiermit auseinanderzusetzen und greifbare Anhaltspunkte zu benennen, die gegen die Sachdarstellung der Gegenseite sprechen. Jedenfalls ist es nicht Aufgabe eines Gerichts, sich mit Behauptungen zu befassen, die "aus der Luft gegriffen" sind und durch keine greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte gestützt werden. Beweisanträge, denen derartige Behauptungen zugrunde liegen, lösen als sog. Beweisermittlungsanträge keine Pflicht des Gerichts zur Beweiserhebung aus (Bundesverwaltungsgericht ―BVerwG―, Beschlüsse vom 25. Januar 1988 7 CB 81.87, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1988, 1746; vom 29. März 1995 11 B 21.95, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310, § 86 VwGO Nr. 266).
c) Im Streitfall haben die Kläger ohne jede tatsächliche Grundlage die Richtigkeit des aus den Akten des FA ersichtlichen Datums der Aufgabe zur Post (2. Oktober 1997) in Zweifel gezogen und ihre Behauptung eines atypischen Geschehensablaufs auch noch unverändert aufrecht erhalten, nachdem das FA in seiner Stellungnahme vom 26. Juli 2000 die typische Behandlung der Ausgangspost im FA dargestellt und die Möglichkeit eines unrichtigen Aktenvermerks über das Absendedatum der Einspruchsentscheidung oder einer vom typischen Geschehensablauf im FA abweichenden Versendung der Einspruchsentscheidung der Kläger ausgeschlossen hatte. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass das FG von einer Vernehmung des Sachgebietsleiters H zu dem von den Klägern benannten Beweisthema abgesehen hat. Die Kläger werden dadurch ―entgegen ihrer Behauptung― nicht in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Zwar mag es richtig sein, dass es ihnen nicht möglich ist, von sich aus konkrete Behauptungen über die Behandlung des Postausgangs innerhalb des FA aufzustellen. Sie hätten jedoch konkrete Zweifel an der Richtigkeit des in den Akten vermerkten Datums der Aufgabe zur Post wecken und das Gericht zu der beantragten Beweisaufnahme veranlassen können, wenn sie den Briefumschlag der Einspruchsentscheidung aufbewahrt hätten und der Freistempel ein späteres Datum als das aus der Einspruchsentscheidung ersichtliche Absendedatum ausgewiesen hätte. Wenn die damaligen Prozessbevollmächtigten es unterlassen haben, in dieser Weise Beweisvorsorge zu treffen, müssen sich die Kläger dieses Versäumnis ihrer Bevollmächtigten zurechnen lassen.
Die Kläger müssen sich auch entgegenhalten lassen, dass im Büro ihrer früheren Bevollmächtigten keine organisatorischen Vorkehrungen dafür getroffen worden waren, die am Samstag eingehende Post mit dem zutreffenden Eingangsstempel zu versehen. Nach dem eigenen Vorbringen der Kläger erhielten die am Samstag und die am folgenden Montag eingehenden Postsachen unterschiedslos den Eingangsstempel vom Montag. Der Eingangsstempel der Prozessbevollmächtigten auf der Einspruchsentscheidung war deshalb nicht geeignet, Zweifel am Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der in § 122 Abs. 2 AO 1977 genannten Frist zu begründen.
3. Unschlüssig ist auch die weitere Rüge, das FG habe seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt (§ 96 FGO), weil es die von den Klägern dargelegten Zweifel an der Richtigkeit des Postaufgabevermerks des FA nicht in ausreichender Weise zum Gegenstand seiner Entscheidung gemacht habe. Die Kläger behaupten selbst nicht, dass das FG sich in den Urteilsgründen nicht mit ihren Ausführungen und ihrem Beweisangebot auseinander gesetzt habe. Letztlich machen sie mit ihren Angriffen geltend, das FG habe ihr Vorbringen anders würdigen müssen. In der nach Auffassung der Kläger unzutreffenden Würdigung ihres tatsächlichen und rechtlichen Vorbringens ist aber grundsätzlich kein Verfahrensfehler zu sehen (BFH-Beschluss vom 12. September 1996 X B 76/96, BFH/NV 1997, 246).
4. Einer weiteren Begründung bedarf diese Entscheidung nicht (vgl. § 116 Abs. 5 FGO i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757).
Fundstellen
Haufe-Index 707133 |
BFH/NV 2002, 661 |