Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei Büroversehen; Verfahren beim Streit um die Wirksamkeit einer Klagerücknahme
Leitsatz (NV)
1. Begründet ein Prozeßbevollmächtigter seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand damit, durch ein Büroversehen sei die angefochtene Entscheidung dem Sachbearbeiter nicht rechtzeitig vorgelegt worden, so muß er substantiiert vortragen, welche Vorkehrungen er getroffen hatte, um eine rechtzeitige Vorlage gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen.
2. Auf die Beschwerde gegen einen nach § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO ergangenen Einstellungsbeschluß muß das FG in den zeitlichen Grenzen des § 56 Abs. 3 FGO zunächst prüfen, inwieweit der Kläger mit ihr die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend macht. Bejahendenfalls muß es im Urteilsverfahren entweder sachlich über die Klage entscheiden oder aussprechen, daß diese wirksam zurückgenommen ist (Anschluß an die ständige Rechtsprechung des BFH).
3. Wären dem Kläger bei einer solchen Sachbehandlung keine Kosten für das Beschwerdeverfahren entstanden, so ist es regelmäßig geboten, gemäß § 8 GKG von der Erhebung von Gerichtskosten abzusehen (Anschluß an den Beschluß des BFH vom 25. April 1990 X B 79/90, BFH/NV 1990, 521).
Normenkette
FGO §§ 56, 72 Abs. 2 S. 2; GKG § 8
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhoben gegen den Einkommensteuerbescheid 1984 (Streitjahr) in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 1987 Klage. Sie machten die Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrages gemäß § 32 Abs. 8 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1983 in Höhe von 432 DM geltend und verwiesen auf anhängige Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Am 21. Januar 1988 änderte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Einkommensteuerbescheid des Streitjahres, indem er höhere Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigte. Der Änderungsbescheid wurde auf Antrag der Kläger Gegenstand des Verfahrens. Mit Schriftsatz vom 15. November 1989 nahmen die Kläger die Klage ,,nach den nunmehr vorliegenden Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zurück". Mit Beschluß vom 20. November 1989 stellte das Finanzgericht (FG) das Verfahren wegen Einkommensteuer 1984 gemäß § 72 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ein. Der Beschluß wurde dem Prozeßbevollmächtigten am 9. Januar 1990 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt.
Gegen den Einstellungsbeschluß richtet sich die Beschwerde der Kläger, die am 14. Februar 1990 beim FG einging. Die Kläger beantragen gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist. Zur Begründung führen sie aus, das Klagebegehren nur bezüglich des Kinderfreibetrages, nicht aber wegen der streitigen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zurückgenommen zu haben. Erst mit der Mahnung des FA vom 30. Januar 1990 hinsichtlich der rückständigen Steuern habe der Prozeßbevollmächtigte erfahren, daß der Einstellungsbeschluß beide Klagebegehren umfasse. Durch ein Büroversehen sei dem Prozeßbevollmächtigten der Einstellungsbeschluß nicht rechtzeitig vorgelegt worden.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig.
a) Sie ist zwar statthaft (Senatsbeschluß vom 26. Oktober 1988 IX B 164/88, BFH/NV 1990, 168; Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. Mai 1972 IV B 99/70, BFHE 105, 246, 248, BStBl II 1972, 543; vom 30. Januar 1980 VI B 116/79, BFHE 129, 538, 539, BStBl II 1980, 300), aber nicht gemäß § 129 Abs. 1 FGO innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung eingelegt worden. Die Beschwerdefrist begann mit Ablauf des 9. Januar 1990, dem Tag der Zustellung des angefochtenen Beschlusses, und endete mit Ablauf des 23. Januar 1990 (§ 54 Abs. 2 FGO, § 222 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Die Beschwerde ging aber erst am 14. Februar 1990 beim FG ein.
b) Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist ist nicht zu entsprechen. Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist demjenigen, der ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist verhindert war, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dabei ist das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten dem Kläger zuzurechnen (§ 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO). Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, müssen innerhalb der Antragsfrist mitgeteilt werden. Erforderlich ist eine vollständige Darstellung der Ereignisse, die zu der Fristversäumnis geführt haben (Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 2. Aufl., § 56 Anm. 49 ff., m. w. N.). Der Prozeßbevollmächtigte hat keine Tatsachen vorgetragen, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könnten. Zwar ist anerkannt, daß ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten dann nicht gegeben ist, wenn eine Fristversäumnis lediglich auf einem sog. ,,Büroversehen" beruht (vgl. BFH-Beschluß vom 8. November 1989 II B 112/89, BFH/NV 1990, 648, 649). Es reicht jedoch nicht aus, wenn das behauptete Büroversehen lediglich damit begründet wird, der Einstellungsbeschluß sei dem zuständigen Sachbearbeiter nicht rechtzeitig zur Prüfung vorgelegt worden. Es wäre erforderlich gewesen, vorzutragen, daß der Prozeßbevollmächtigte seinen Bürobetrieb in der Weise organisiert hatte, daß Fristversäumnisse ausgeschlossen sind, insbesondere - bezogen auf den Streitfall - welche Vorkehrungen der Prozeßbevollmächtigte getroffen hatte, um eine rechtzeitige Vorlage gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen (zu den Substantiierungsanforderungen im einzelnen: Gräber / Koch, a. a. O., Anm. 36, m. w. N.). Daran fehlt es hier.
c) Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
d) Nach § 8 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) war jedoch von der Erhebung von Gerichtskosten abzusehen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH muß das FG auf die Beschwerde gegen einen nach § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO ergangenen Beschluß zur Einstellung des Verfahrens hin - statt sie dem BFH vorzulegen - zunächst prüfen, inwieweit der Kläger mit ihr die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend macht. Eine zeitliche Begrenzung hierfür ergibt sich insoweit nur aus § 56 Abs. 3 FGO. Bejahendenfalls muß es im Urteilsverfahren entweder sachlich über die Klage entscheiden oder aussprechen, daß diese wirksam zurückgenommen ist (Senatsentscheidung in BFH/NV 1990, 168; BFH-Beschlüsse in BFHE 129, 538, BStBl II 1980, 300; vom 25. April 1990 X B 79/90, BFH/NV 1990, 521).
Den Klägern wären bei einer solchen Sachbehandlung durch das FG keine Kosten für das Beschwerdeverfahren entstanden. Der erkennende Senat hält es in diesem Fall für geboten, § 8 Abs. 1 GKG anzuwenden (so auch BFH-Beschlüsse in BFHE 129, 538, BStBl II 1980, 300, und in BFH/NV 1990, 521).
Das FG hat nunmehr noch über den in der unzulässigen ,,Beschwerde" enthaltenen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens im Sinne der angegebenen BFH-Rechtsprechung zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 418132 |
BFH/NV 1992, 329 |