Leitsatz (amtlich)
Die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Gesetzes ist kein Rechtsverhältnis i. S. d. § 74 FGO; nur besondere, außerhalb dieser Vorschrift liegende Gründe können die Aussetzung der Verhandlung bis zur Entscheidung eines beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens unter entsprechender Anwendung des § 74 FGO rechtfertigen.
Normenkette
FGO § 74
Tatbestand
Das FG hat die Verhandlung über die Anfechtungsklage gegen einen Erbschaftsteuerbescheid bis zur Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluß des BFH vom 18. Dezember 1972 II R 87-89/70 (BFHE 108, 393, BStBl II 1973, 329) ausgesetzt.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Die Voraussetzungen des § 74 FGO sind weder unmittelbar noch sinngemäß erfüllt.
Gemäß § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet (oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist), anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits (oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde) auszusetzen sei. Diese Vorschrift ist - ebenso wie die ihr entsprechende des § 94 VwGO - der Vorschrift des § 148 ZPO nachgebildet; sie stimmt mit ihr wörtlich überein. Demzufolge gelten - bei nur fragmentarischer Regelung der FGO - für die Rechtsfolgen der Aussetzung der Verhandlung (§ 74 FGO) sinngemäß die Vorschriften der ZPO, soweit die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten es nicht ausschließen. § 249 ZPO legt der Aussetzung des Verfahrens die Wirkung bei, daß der Lauf einer jeden Frist aufhört und nach Beendigung der Aussetzung von neuem zu laufen beginnt (Absatz 1), und daß die während der Aussetzung von einer Partei in Ansehung der Hauptsache vorgenommenen Prozeßhandlungen der anderen Partei gegenüber ohne rechtliche Wirkung sind (Absatz 2).
Mit diesen Voraussetzungen und Rechtsfolgen unterscheidet sich § 74 FGO deutlich von § 264 Abs. 1 AO a, F., der vor Inkrafttreten der FGO eine Aussetzung der Entscheidung ermöglichte. Gemäß § 264 Abs. 1 AO a. F. konnte die Entscheidung bereits dann ausgesetzt werden, wenn wegen einer gleichen oder ähnlichen Streitfrage eine Rechtsbeschwerde bei dem BFH anhängig war oder sonst vor einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde ein Verfahren schwebte, dessen Ausgang von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung war.
Der maßgebende Unterschied beider Vorschriften besteht darin, daß sich § 264 Abs. 1 AO a. F. mit der Vorgreiflichkeit der (abstrakten) "Streitfrage" begnügte, während § 74 FGO die Vorgreiflichkeit eines (konkreten) "Rechtsverhältnisses" fordert (vgl. Beschluß vom 24. Januar 1967 II S 30/66, BFHE 87, 517 [518 f.], BStBl III 1967, 205). Während "Streitfrage" auch die Auslegung einer bestimmten Vorschrift und damit der Bestand oder Nichtbestand einer bestimmten Rechtsnorm sein kann, ist diese Frage nur Vorfrage des Bestands oder Nichtbestands eines bestimmten Rechtsverhältnisses. Denn dieser beruht auf der rechtlichen Würdigung eines bestimmten Sachverhalts.
Demzufolge ist die Rechtsfrage, ob eine Vorschrift gilt oder nicht gilt, kein Rechtsverhältnis im Sinne des § 74 FGO. Der Umstand, daß das BVerfG in einem bereits anhängigen Verfahren möglicherweise (§ 95 Abs. 3 BVerfGG) oder notwendigerweise (Art. 100 Abs. 1, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) über die Gültigkeit eines Gesetzes entscheiden wird, rechtfertigt die Aussetzung eines finanzgerichtlichen Verfahrens bis zum Abschluß des verfassungsgerichtlichen Verfahrens daher regelmäßig nicht (vgl. Beschlüsse vom 29. Juli 1966 IV 264/65, BFHE 86, 671 [673], BStBl III 1966, 629; vom 9. November 1966 I 225/65, BFHE 87, 317 [319], BStBl III 1967, 120; vom 15. September 1967 III B 32/67, BFHE 90, 209 [211 f.], BStBl II 1968, 46; vom 13. Oktober 1967 VI B 43/67, BFHE 90, 393, BStBl II 1968, 118). Vielmehr ist, sofern nicht beide Beteiligten das Ruhen des Verfahrens beantragt haben (§ 155 FGO, § 251 ZPO), ein Rechtsstreit, der von einer solchen Verfassungsrechtsfrage berührt wird, grundsätzlich in gleicher Weise und nach Maßgabe der Geschäftslast des Gerichts und der besonderen Umstände des Falles auch zum gleichen Zeitpunkt zur Verhandlung zu bringen, wie wenn nur die Auslegung der maßgebenden Vorschrift umstritten wäre. Das Gericht muß den Rechtsstreit nach seiner eigenen Rechtsüberzeugung entscheiden (Art. 97 Abs. 1 GG) oder - sofern es durch Art. 100 Abs. 1 GG an eigener Entscheidung gehindert ist - die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit der maßgebenden Vorschrift einholen (§ 80 Abs. 3 BVerfGG).
Für ein solches Verfahren spricht außer Wortlaut und Sinn des § 74 FGO (vgl. § 148 ZPO) auch der Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn die Entscheidung des BVerfG wirkt, wenn und soweit ihr Gesetzeskraft zukommt (Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG, § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVerfGG), auch für und gegen die Beteiligten anhängiger Verfahren. Sie können aber ihre verfassungsrechtlichen Argumente nur dann dem BVerfG unterbreiten, wenn sie als Beteiligte eines gemäß Art. 100 Abs. 1 GG unter Vorlage an das BVerfG ausgesetzten Verfahrens (§ 82 Abs. 3 BVerfGG), als Verfassungsbeschwerdeführer (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) oder als dessen früherer Prozeßgegner (§ 94 Abs. 3 BVerfGG) vor dem BVerfG zu Gehör kommen können.
Allerdings kann nicht allen durch die künftig ergehende Entscheidung des BVerfG Betroffenen rechtliches Gehör gewährt werden, insbesondere nicht denjenigen, die erst künftig durch das Gesetz betroffen werden. Beinhaltet demnach die Zulassung der Gesetzeskraft durch das GG selbst (Art. 94 Abs. 2 Satz 1), daß nicht jeder vor dem BVerfG zu Gehör kommen kann, gegen den die Entscheidung wirkt, so ist zwangsläufig auch zugelassen, daß die von einer beim BVerfG anhängigen Rechtsfrage berührten Prozesse nur in der Reihenfolge behandelt werden, die ihnen mit Rücksicht auf andere anhängige Prozesse und deren Entscheidungsreife zukommt, und daß kein rechtlicher Zwang besteht, alle diese Verfahren ohne Rücksicht auf die Geschäftslast des Gerichts und die Anhängigkeit einer Vielzahl anderer Verfahren zur sofortigen Entscheidung oder Vorlage zu bringen. Doch ist das keine Frage der förmlichen Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO.
Dem Beschluß des BFH vom 1. August 1967 II B 8/67 (BFHE 89, 178, BStBl III 1967, 562) lag eine wesentlich andere Interessenlage zugrunde; sie rechtfertigte nicht die unmittelbare, sondern die "sinngemäße" Anwendung des § 74 FGO (BFHE 89, 178 [179]). Denn dort hatte der BFH - ohne zur Anrufung des BVerfG verpflichtet oder auch nur berechtigt gewesen zu sein - § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG für nichtig erachtet und war bei dieser Auffassung verblieben; dieser Ansicht entgegen hatte die Bayerische Staatsregierung gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Entscheidung des BVerfG über die Gültigkeit des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG beantragt (vgl. § 76 Nr. 2 BVerfGG). Es hätte eine Aushöhlung des Instituts der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) bedeutet, wenn die Gerichte ungeachtet des vor dem BVerfG anhängigen Verfahrens fortgefahren wären, alle auf dieser Vorschrift beruhenden Steuerbescheide aufzuheben. Denn den durch diese Entscheidung betroffenen FÄ hätte gegen die entsprechende Entscheidung des BFH ein Rechtsbehelf an das BVerfG nicht zugestanden; die spätere Entscheidung des BVerfG, welche § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG für mit dem GG vereinbar erklärte, hätte allen rechtskräftig entschiedenen Fällen gegenüber wirkungslos bleiben müssen. Zu solchen Entscheidungen wäre es aber in großer Zahl gekommen, weil hinsichtlich des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG eine Vorlagepflicht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht bestand und bei Annahme der Nichtigkeit dieser Vorschrift alle von ihr betroffenen Steuerfälle sofort entscheidbar waren. Demzufolge war es in diesen Fällen nicht möglich, Rechtsfolgen, welche dem Sinn des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zuwidergelaufen wären, anders zu entgehen als durch Aussetzung der Verfahren unter entsprechender Anwendung des § 74 FGO. Denn ohne solche Aussetzung hätten alle diese Fälle sofort entschieden werden müssen, weil sie ohne merkliche Geschäftsbelastung sofort hätten entschieden werden können.
Im vorliegenden Fall dagegen kommt es - worauf die Beschwerdeführerin abhebt - zunächst darauf an, ob die Gültigkeit des § 23 Abs. 1 ErbStG entscheidungserheblich ist. Diese Frage gibt dem vorliegenden Rechtsstreit keine andere Qualität als den Rechtsfragen anderer Rechtsstreite. Es unterliegt daher dem pflichtgemäßen Ermessen des FG, zu prüfen und zu würdigen, ob diese Rechtsfrage so einfach zu beantworten ist, daß ein Vorziehen dieses Falles gerechtfertigt werden kann, oder ob sie so problematisch ist, daß angesichts der Möglichkeit, die Rechtsfrage könnte bei Nichtigerklärung des § 23 ErbStG gegenstandslos werden, andere, nicht minder vordringliche Fälle nicht zugunsten dieses Falles zurückgestellt werden dürfen.
Diese Frage, deren Entscheidung die Beschwerdeführerin offenbar wünscht, unterliegt nicht der Nachprüfung des BFH. Vielmehr ist der angefochtene Beschluß allein deshalb aufzuheben, weil weder die Voraussetzungen des § 74 FGO noch die seiner entsprechenden Anwendung gegeben sind.
Abweichend davon hatte allerdings der erkennende Senat in dem Beschluß vom 23. Februar 1966 II S 2/66 (BFHE 86, 248 [249 f.], BStBl III 1966, 402) in einer beim BVerfG anhängigen Verfassungsrechtsfrage, ob ein Gesetz gültig oder ungültig ist, ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 74 FGO gesehen. An dieser Ansicht hat er aber bereits im Beschluß vom 27. Juli 1966 II B 3/66 (BFHE 86, 504, BStBl III 1966, 546) nicht mehr festgehalten. Soweit die Beschlüsse vom 24. Januar 1967 II S 30/66 (BFHE 87, 517, BStBl III 1967, 205) und vom 1. August 1967 II B 8/67 (BFHE 89, 178, BStBl III 1967, 562) noch - ohne Abweichung in der Sache - die Möglichkeit anderer Beurteilung offengehalten haben, waren diese Erwägungen nicht tragend. Vielmehr erfüllt die Anhängigkeit eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens über die Gültigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes nicht die Voraussetzungen des § 74 FGO; nur besondere, außerhalb dieser Vorschrift liegende Umstände erlauben dessen entsprechende Anwendung. Solche Umstände sind hier nicht gegeben.
Der angefochtene Beschluß war demnach ersatzlos aufzuheben, ohne daß auf den von der Klägerin zur Hauptsache vertretenen Standpunkt einzugehen wäre. Die Beurteilung der Hauptsache obliegt vielmehr, da der Rechtsstreit noch im ersten Rechtszug anhängig ist, ausschließlich dem FG.
Fundstellen
Haufe-Index 70650 |
BStBl II 1974, 247 |